Hallo Thomas,
Quote
Kannst du mir / uns Beispiele nennen,
wofür die Geschichtsschreibung jahrzehntelang brauchte, um das Nachkriegsbild der Wehrmacht,
verursacht durch die FMS, in den richtigen Kontext zu stellen?
Ich glaube nicht, dass eine bloße Aufzählung von Beispielen deiner Frage gerecht werden würde. Für eine nachvollziehbare Einordnung der Vorgänge ist es meiner Meinung nach wichtig zunächst auf die Hintergründe einzugehen, denn erst dann wird ersichtlich, welche Mühen die Forschung mitunter zu überwinden hatte, welche Rolle die FMS dabei spielten und warum ihre Nachwirkungen auch heute noch spürbar sind.
Ich hoffe also, du siehst es mir nach wenn ich aushole:
Das Unheil nahm seinen Lauf, als der ehemalige Generalstabschef des deutschen Heeres, Generaloberst Halder, zum Leiter der kriegsgeschichtlichen Forschungsgruppe der Historical Division ernannt wurde, also jener Abteilung die für die Erarbeitung der FMS zuständig war.
Halder begriff schnell, welche Möglichkeiten sich durch diese Funktion boten und verlor keine Zeit das Geschichtsbild seinen eigenen Vorstellungen entsprechend umzugestalten. Die gesamte militärgeschichtliche Tätigkeit dieser Abteilung folgte fortan der Prämisse dem deutschen Soldaten (und Generalstab) ein literarisches Denkmal zu setzen.
Die Grundpfeiler dieses Narratives bildeten dabei die außerordentliche Tapferkeit des einfachen Landsers und das überragende Können der militärischen Führungsschicht.
Die Urteile fielen dann auch entsprechend eindeutig aus: Man hat hart aber anständig gekämpft. Die militärischen Fehlschläge waren nicht das Ergebnis von Planungs- oder Führungsfehlern, sondern von unkontrollierbaren Naturgewalten oder Hitlers Inkompetenz.
Die FMS fungierten somit nicht nur als Brutstätte für die Legende von der sauberen Wehrmacht, sondern auch für den Mythos Wehrmacht. Tatsächlich aber waren sie nicht mehr als die vergifteten Deutungen Halders und seiner Mitautoren.
Doch noch war der Schaden begrenzt, denn die FMS befanden sich unter Verschluss. Um dem Geschichtsbild ihre Prägung geben zu können, mussten sie erst der zivilen Forschung zugänglich gemacht werden. Mit der Gründung des Arbeitskreises für Wehrforschung (AfW) gelang der ehemaligen Wehrmachtselite schließlich nicht nur die Überführung dieser Quellensammlung in den öffentlichen Raum, sondern auch die Schaffung eines (von ihnen) kontrollierten Forschungs- und Publikationsorgans, das dieses Material nun in ihrem Sinne verarbeitete. Dabei war es zweifellos hilfreich, dass die Arbeitsgruppe um Halder für viele Jahre der einzige Personenkreis in Deutschland bleiben sollte, der Zugang zu Primärquellen hatte. Die Rückgabe der deutschen Akten begann erst Anfang der 1960er Jahre und erfolgte auch dann nur schleppend. Wer also in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten zur deutschen Militärgeschichte forschen wollte, kam um die FMS gar nicht herum. Ein Abgleich der dort vorgestellten Erkenntnisse mit Primärquellen war zunächst nicht möglich. Ein Grund mehr, weshalb die FMS das Nachkriegsbild der Wehrmacht so nachhaltig prägen konnten. Dazu kam, dass auch außerhalb des AfW der Erkenntnisfortschritt mühsam erkämpft werden musste. In öffentlichen Einrichtungen, wie dem MGFA, saßen neben jungen Historikern nämlich auch ehemalige Offiziere der Wehrmacht. Und die konnten und wollten an vieles nicht glauben, was nun nach und nach zu Tage gefördert wurde. Die Veröffentlichung des Barbarossa-Bandes des MGFA-Reihenwerks "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" wurde z.B. von Rechtstreitigkeiten der beteiligten Autoren begleitet.
Das war also das Umfeld, in dem sich die Geschichtswissenschaft lange bewegen musste.
Nun zu ein paar Beispielen:
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Von den Beteuerungen er Wehrmachtselite in Nürnberg, den Kommissarbefehl nicht ausgeführt zu haben, bis zur Feststellung seiner flächendeckenden Anwendung, vergingen mehr als 60 Jahre. Römers wegweisende Darstellung stand am Ende eines jahrzehntelangen Forschungsprozesses.
- Noch Mitte der 1980er Jahre war die Meinung vorherrschend, das deutsche Ostheer sei vor Moskau in erster Linie am eisigen Winter gescheitert. Eine überzeugende Korrektur dieser Deutung gelang schließlich Klaus Schüler in seinem Grundlagenwerk zur Logistik im Russlandfeldzug.
- Der erstmals von Halder implizierte Charakter des deutschen Feldzugs gegen die Sowjetunion als präventive Handlung hat die Geschichtswissenschaft bis in die 1990er Jahre hinein immer wieder beschäftigt und ist ein gutes Beispiel dafür, dass einige Erkenntnisse erst lebhafte wissenschaftliche Debatten durchlaufen mussten um anerkannt zu werden.
- Die erstmals vom ehemaligen Generalstabschef des deutschen Heeres, Generaloberst Zeitzler, in die Welt gesetzten Unwahrheiten zum Unternehmen Zitadelle wurden teilweise noch in den 2000er Jahren von der offiziellen deutschen Militärgeschichtsschreibung tradiert. Sie sind erst in den letzten Jahren umfassend entkräftet worden.
- Der verbrecherische Charakter im Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangen wurde Ende der 1970er, durch Christian Streit, in seinen Ausmaßen sichtbar gemacht.
- Die Bedeutung der Kooperation zwischen der Wehrmacht und den Einsatzgruppen der SS wurde Anfang der 1980er Jahre durch Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm erkannt.
Meiner Meinung nach liefert der Mythos Wehrmacht die interessanteren Beispiele, weil er bis heute fortwirkt. Das liegt daran, dass sich die Geschichtsschreibung vor allem auf die Aufarbeitung von Wehrmachtsverbrechen konzentriert hat. Diejenigen Arbeiten, die sich der klassischen Militärgeschichte widmeten, trugen zwar erheblich zu einem besseren Verständnis der tatsächlichen Gelegenheiten bei, waren (und sind auch nach wie vor) jedoch nicht zahlreich genug, um das Bild einer alles überlegenen Militärinstitution zu verschieben. Noch heute fehlt beispielsweise eine operationsgeschichtliche Aufarbeitung zur Waffen-SS.
Aber auch in den letzten Jahren sind immer wieder Arbeiten erschienen, die Zweifel an alten Deutungen aufkommen lassen, etwa zum angeblich sinnlosen Festungskonzept im Osten, zum Einsatz und Wert von Waffen-SS Divisionen oder zu Hitlers angeblich sinnbefreitem Haltekonzept im Baltikum.
Wir verfügen heute sicherlich über ein wesentlich besseres Verständnis über die Wehrmacht als militärischer Apparat, als dies etwa in der Nachkriegszeit der Fall war, ein Ende dieses Erkenntnisprozesses ist allerdings noch nicht in Sicht.
Bei all dem steht außerdem zu beachten, dass ich mich auf die Beeinflussung des wissenschaftlichen Umfeldes konzentriert habe. Was Historiker herausfinden und was die Öffentlichkeit akzeptiert ist ja bekanntlich zweierlei.
Man darf nicht vergessen, dass z.B. die Legende der sauberen Wehrmacht in der breiten Öffentlichkeit erst 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ins Wanken geriet, obwohl schon Ende der 1960er Jahre erste wissenschaftliche Arbeiten erschienen, die daran Zweifel aufkommen ließen. Der Mythos Wehrmacht besteht dagegen in der Öffentlichkeit fort, obwohl sich viele landläufige Annahmen heute nicht mehr aufrecht erhalten lassen.
Ebenfalls unberücksichtig blieben die Auswirkungen auf die internationale - insbesondere englischsprachige - Forschung, die sich noch über viele Jahrzehnte auf die übersetzten Ausarbeitungen der FMS stützten und somit noch in den 1990er Jahren Auffassungen tradierten, die im deutschen Sprachraum längst obsolet waren.
MfG