Die Einschätzung und Bewertung von Handlungsspielräumen, von Widerstand und abweichenden
Verhalten im Nationalsozialismus ist generell, wie auch im speziellen Fall Sauerbruch sehr
schwierig. Selbst die Definition von Nonkonformität und Widerstand fällt nicht leicht. Letztlich
waren die Übergänge zwischen „privatem Nonkonformismus, oppositioneller Gesinnung, aktiven
Widerstand und direkter Verschwörung zum Sturz Hitlers“ fließend. Durch seinen totalitären
Anspruch konnte das NS-Regime bereits einfache Äußerungen als widerständisches Handeln deuten.
Im Dritten Reich wurden selbst kleine Vergehen schwer bestraft. Bereits 1934 wurden durch
das sogenannte Heimtückegesetz alle Äußerungen, die sich angeblich gegen Wohl und Ansehen
von Staat und NSDAP richteten, kriminalisiert. Es konnten Haftstrafen von unbestimmter Dauer
verhängt werden. Mit dem Krieg wurde der Druck auf NS-Kritiker weiter verschärft. Die
Kriegssonderstrafrechtsverordnung führte den Tatbestand der Wehrkraftzersetzung ein.
Paragraph 5 konnte auch auf Zivilisten angewandt werden und sah, wenn jemand „öffentlich den Willen
des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht“,
die Todesstrafe vor. Die meisten Todesurteile wurden auf Basis der Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939 gefällt,
deren vagen Bestimmungen den NS Richtern ermöglichten, das Gesetz großzügig auszulegen.
Darüber hinaus wurde auch das Militär strafrecht verschärft. Gegnern und Kritikern des Regimes
drohte also stets der Zugriff des Staates.
Sebastian Haffner beobachtete bereits früh das Abhandenkommen einer offensichtlichen, aktiven
Gegnerschaft zur NS-Diktatur. Er konstatierte 1939, dass „nach der Räumung des politischen
Feldes, der erobernde und gefräßige Staat in die einstigen Privatzonen vorgestoßen ist und auch
dort seinen Gegner, den widerspenstigen Menschen, herauszuwerfen und zu unterjochen am Werk
ist; dort, im Privatesten, spielt sich heute in Deutschland jener Kampf ab, nach dem man vergeblich
mit den Fernrohren das politische Feld absucht. Was einer isst und trinkt, wen er liebt, was er in
seiner Freizeit tut, mit wem er sich unterhält, ob er lächelt oder finster aussieht, was er liest oder
was er sich für Bilder an die Wand hängt – das ist heute die Form in der politisch gekämpft
wird“. Vor diesem Hintergrund muss auch Ferdinand Sauerbruchs Verhalten im Nationalsozialismus
bewertet werden.
...
Über die medizinisch-wissenschaftspolitische Kritik hinaus, hatte Sauerbruch bereits in den national
gefärbten Äußerungen von 1933 seine nicht mit der NS-Ideologie vereinbaren Internationalismus
öffentlich gemacht. In seiner Rede vom 11. November 1933 betonte er laut dem anwesenden Leo
Norpoth die Internationalität der Wissenschaft. Es sei letztlich egal, ob er einen deutschen oder
einen chinesischen Blinddarm operiere. Dieses Statement erschien aber weder in der gedruckten
Publikation, noch im Rundfunkmitschnitt. Daneben begrüßte er die Versammlung als einer von
wenigen ohne Hitlergruß[88]. Die Ablehnung offiziell geforderte Gruß- und Sprachnormierung kam
ebenso in seiner wiederholten Nennung Deutschlands vor der des Führers zum Ausdruck. Dies
geschah etwa bei der Versammlung der Gesellschaft der deutschen Naturforscher und Ärzte in
Dresden 1936. Sauerbruch wurde, nachdem er in einem Seminar im Frühjahr 1941 einige
Worte zum Untergang des Schlachtschiffs „Bismarck“ sagte und mit den Worten „Es lebe Deutschland
und der Führer!“ schloss, für diese Sprachungenauigkeit durch einen Studenten bei der
Gestapo denunziert und von ihr anschließend gerügt. Dies illustriert, wie angespannt die Lage
im nationalsozialistischen Deutschland selbst für Ferdinand Sauerbruch war. Jahre zuvor, im
Februar 1935 hatte Sauerbruch, trotz Gestapoverbot, mit seiner Teilnahme am kleinen Trauerzug
für den jüdischen Maler Max Liebermann (1847-1935) seine Ablehnung des Antisemitismus
öffentlich Ausdruck gebracht. Die Absage an den nationalsozialistischen Antisemitismus war für
ihn gegenüber der NSDAP zentrales Argument, den Parteibeitritt wiederholt abzulehnen.