Hallo zusammen,
passend zum vorigen Beitrag über den "Entsatzangriff in Richtung Wilna" und die zugehörigen Bilder habe ich in der
Autobiographie des bekannten Schauspielers Horst Naumann (Jahrgang 1925) seine Zusammenfassung des Ausbruchs
der eingeschlossenen Kampfgruppe gefunden. Naumann war wohl der beliebteste "Schiffsarzt" auf dem ZDF-Traumschiff,
eine Rolle, die er von 1986 bis 2010 (ganze 24 Jahre lang) verkörperte.
https://de.wikipedia.org/wiki/Horst_Naumann
Naumanns Darstellung ist zu entnehmen, daß er (als Gefreiter) wohl selbst nicht bis Wilna gekommen ist, sondern als vom Genesungsurlaub zurückkehrender Soldat (dessen vorige Einheit bereits untergegangen war) zur neu aufgestellten "Gruppe Tolsdorff" kommandiert worden war:
"Die Front brauchte "Menschenmaterial", also ging es wieder nach Russland. Diesmal wurde ich in den nördlichen Teil gesandt. Der Krieg war so weit vorangeschritten, dass wir, die deutschen Truppen, uns nur noch, mit wenigen Frontabschnitten, in westliche Richtung bewegten.
Da oben, bei Wilna, überholte uns die russische Front sogar und wir wurden in deren Rücken eingeschlossen. Eine Gewissheit, die uns mit Angst erfüllte; entweder wir werden herausgeholt oder der Transport nach Sibirien besiegelt unser Schicksal.
Die Panzerdivision "Großdeutschland" hatte schließlich die feindlichen Linien durchbrochen und schleuste uns durch die Russen hindurch wieder aus der Gefahrenzone heraus. Erleichterung und Jubel brachen aus uns heraus. Man kann das heute alles nicht mehr erklären, was uns damals in solchen Momenten bewegt hat. Da gibt es keine Wahl mehr, da ist einem das Los zugefallen. Auch dieser Hölle bin ich entronnen."
(Horst Naumann, Zwischen Leuchtfeuer und Traumschiff. Die Autobiografie, Leipzig 2005, S. 28-29.)
Weiter schreibt Naumann auch von den schweren Verlusten, die durch die haushohe Überlegenheit der sowjetischen Panzerbrigaden bedingt war (Generaloberst Reinhardts 3. "Panzerarmee" hatte ja bekanntlich schon seit Monaten keinen einzigen Kampfpanzer mehr gehabt, weil Hitler fast alle beweglichen Einheiten in die Ukraine kommandiert hatte).
Der Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser hat zu diesem Panzermangel der Wehrmacht geschrieben:
"Das größte Problem der Heeresgruppe Mitte bestand jedoch im Defizit an Panzern. Bezeichnenderweise war auch die Bezeichnung "3. Panzerarmee" völlig irreführend. Dieser Großverband besaß schon längst keinen einzigen Kampfpanzer mehr, sondern nur 76 Sturmgeschütze.
So schwer vorstellbar es erscheinen mag: In der gesamten Nordhälfte der Ostfront befand sich Anfang Juni lediglich ein größerer Panzerverband, nämlich die zur Heeresgruppe Nord gehörende 12. Panzerdivision."
(Karl-Heinz Frieser, Der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944, in: Karl-Heinz Frieser, Klaus Schmider, Klaus Schönherr (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8, Die Ostfront - Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten, München 2007, S. 526-531.)
Und obwohl unmittelbar vor Beginn der sowjetischen Offensive am 22. Juni 1944 die 20. Panzerdivision der Heeresgruppe Mitte zugeführt wurde, erhöhten deren 56 Kampfwagen die Gesamtzahl lediglich auf 118 Panzer (und insgesamt 377 Sturmgeschütze ohne beweglichen Geschützturm):
"Dies [495 Stück] war nicht gerade eine imponierende Zahl von Kampfwagen angesichts der mehr als 6000 Panzer und Sturmgeschütze, die die Rote Armee dagegen einsetzte." (Zitat Frieser, a.a.O.)
Und der Standardpanzer dieser wenigen Panzerdivisionen des Ostheeres war 1944 immer noch der veraltete Panzer IV.
Der Einsatz der I./Pz.Rgt.GD mit Panther-Panzern an der Spitze der angreifenden deutschen Entsatzgruppe war also damals eine Aktion mit Seltenheitswert. Deshalb nahm Generaloberst Reinhardt wohl auch selbst daran teil, um die Erfolgschancen mit seiner Autorität nach den wochenlangen Rückzügen seiner dezimierten Armee (nur noch 2-3 übrig gebliebene Infanteriedivisionen) zu erhöhen.
Am zweiten Operationstag schossen die zahllosen Sowjetpanzer aber aus mehreren Richtungen direkt in den Rückzugskorridor der deutschen Entsatztruppen und trafen auch immer wieder Mannschaftstransport-Lkws.
Naumann schreibt von "vielen Verlusten".
Er erwähnt allerdings auch entlastende Luftangriffe durch Flugzeuge des Sturzkampfgeschwaders bzw. Schlachtgeschwaders 2 (Immelmann). Neben den seltenen Panzern V (Panther) der GD-Abteilung waren diese ebenfalls seltenen unterstützenden Luftangriffe wohl ein wichtiges moralisches Aufputschmittel für die aus den Kesseln entkommenen übermüdeten deutschen Soldaten:
Quote"Die Russen hatten auf beiden Seiten der Rollbahn, auf der wir von der Panzerdivision eskortiert nach Westen fuhren, ihrerseits Panzer auffahren lassen, die unentwegt in unsere Kolonnen hinein schossen. Es gab viele Verluste, aber wir waren noch einmal davongekommen.
Das hatte die Truppe auch einem verwegenen Offizier zu verdanken, der mit seinem Kampfflugzeug, an das er sich zwei Panzerkanonen hatte anbauen lassen, auf die russischen Panzer herabstürzte und sie, mit tödlicher Sicherheit treffend, ausschaltete. Dieser Oberst Rudel löste damit einen unglaublichen Jubel bei den Soldaten aus, waren sie doch dadurch dem Tod oder der Gefangenschaft entronnen."
(Horst Naumann, Zwischen Leuchtfeuer und Traumschiff. Die Autobiografie, Leipzig 2005, S. 28-29.)
Zum Abschluß dieser Schilderung würdigt Horst Naumann auch noch den deutschen militärischen Widerstand gegen Hitler und die Nazis, der mit dem mißglückten Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 seinen Höhepunkt erreichte. Die Hoffnung vieler Soldaten auf ein schnelles Ende des Krieges war mit dem Scheitern der Verschwörer ebenfalls begraben worden:
"Der Wahnsinn des Krieges war trotzdem nicht zu stoppen, auch nicht durch den heldenhaft verzweifelten Versuch der deutschen Widerstandskämpfer um Klaus Graf Schenk von Stauffenberg. Er und viele andere mit ihm hatten den letzten Versuch unternommen, den endgültigen Untergang Deutschlands abzuwenden und haben mit ihrem Leben bezahlt.
An der Front hatten wir von dem versuchten Attentat erst nach dem Scheitern erfahren. Die Nachricht hatte, wie ein Lauffeuer durch alle Frontabschnitte gehend, die Hoffnung aufkeimen lassen, dass dadurch das Grauen beendet werden könnte, dass Deutschland vielleicht frei von fremden Truppen bleiben würde.
Welch ein Trugschluss! Es wurde weiter umgebracht, verbrannt, zerstört, unschuldige Menschen vertrieben, geschunden und entehrt."
(Horst Naumann, Zwischen Leuchtfeuer und Traumschiff. Die Autobiografie, Leipzig 2005, S. 28-29.)
Grüße,
Bodo