Hallo Joseph
Nun, das mit den Unbelehrbaren ist kaum eine Überraschung, auch in den baltischen Staaten ist man nach meiner persönlichen Erfahrung mitunter sehr unkritisch bei der Erinnerung an die nationalistischen Kräfte.
Hallo Marc und Joseph,
man sollte sich meiner Meinung nach eingestehen, daß echte mulitperspektivische Geschichtsbetrachtungen fast überall Mangelware sind.
Ich erinnere mich an den Seufzer eines altgedienten Didaktikprofessors für Geschichte, der in einer Vorlesung meinte, die Deutschen hätten ja nun endlich ihre Nationalgeschichte zugunsten einer europäischen Geschichtsschreibung aufgegeben, aber vergleichbare Perspektivwechsel anderer Nationen seien bislang (leider) ausgeblieben. Der Prof selber hatte u.a. an internationalen Schulbuchprojekten mitgewirkt, die ausschließlich mit deutschen Geldern finanziert wurden.
Vor Jahren gab es anläßlich des Kriegsendes einen aufschlußreichen Artikel in der WELT über die historischen Befindlichkeiten der baltischen Länder angesichts der Konfrontation mit Rußland und den seit der Stalin-Zeit starken russischen Minderheiten im Baltikum:
QuoteRusslands Siegesfeier erregt im Baltikum Ärger
Moskau erinnert an den 66. Jahrestag des Kriegsendes und verärgert damit seine Nachbarn. Denn im Baltikum haben Sowjetsoldaten auch brutal gewütet.
[...]
Der litauische Historiker Saulius Suziedelis sieht in der Erinnerung an den Krieg zweierlei. "Die Erfahrung der Litauer ist, dass etwa 5000 ihrer Landsleute von den Nazis umgebracht wurden, aber etwa zehnmal mehr unter den Sowjets, vor allem in den ersten Nachkriegsjahren.
Interessant finde ich auch die neueren Forschungen des polnischen Historikers Marcin Zaremba, der u.a. herausgefunden hat, daß durch polnische Aktionen in den von Deutschland besetzten Gebieten mehr jüdische Landsleute getötet wurden als im selben Zeitraum Angehörige der deutschen Besatzungstruppen. Diese Erkenntnisse zur Holocaust-Geschichte haben laut MDR-Interview in Polen für ziemliche Aufregung gesorgt:
Interview "Die vierte Phase des Holocausts"
Der polnische Historiker Marcin Zaremba hat mit seinen Forschungsergebnissen im April 2017 für Aufregung gesorgt, weil sie so wenig ins bisherige Geschichtsbild der Polen passen. Er untersuchte, wie seine Landsleute im Zweiten Weltkrieg und kurz danach ihre jüdischen Nachbarn und Mitmenschen behandelten.
[...]
QuoteLaut Dokumenten, die Sie veröffentlicht haben, haben die Polen während der deutschen Besatzung mehr Juden als Deutsche getötet. Um welche Zahlen handelt es sich?
Deutsche Berichte aus dem damaligen "Generalgouvernement" belegen, dass in der Zeit zwischen Oktober 1939 und Sommer 1944 ungefähr 1.300 Deutsche getötet wurden. Dazu muss man noch 900 Mithelfer vor allem aus den Reihen der polnischen und ukrainischen Polizei rechnen. Wir reden über die Zeit nach dem Angriff im September 1939 auf Polen, bei dem es 17.000 deutsche Opfer gab – und vor August 1944, als der Aufstand im besetzten Warschau ausbrach, in dem wiederum zwischen 2.000 und 9.000 Deutsche getötet wurden. In derselben Zeit – also zwischen Oktober 1939 und Sommer 1944 - wurden mehr als 10.000 Juden an die Deutschen ausgeliefert oder von Polen ermordet.
Doch zurück zum Thema Wilna 1944.
Ich habe in der mir zur Verfügung stehenden Literatur mehrere Auszüge gefunden, die vielleicht helfen könnten, die Hintergründe der gescheiterten Kooperation zwischen der AK und den Sowjets einerseits und der zwischen AK und deutschen Wehrmachtsstellen andererseits aufzuhellen.
Den Ausführungen des polnischen Historikers Wlodzimierz Borodziej
zufolge sollte die Eroberung Wilnas durch Einheiten der AK die
Generalprobe für den Warschauer Aufstand sein. Borodziej überschreibt den Abschnitt wo Wilna behandelt wird, daher mit
"Die Generalprobe" (für die geplante Rückeroberung Warschaus):
QuoteDisplay More"Am 1. Juni [1944] wurde dem AK-Kommandeur von Wilna, Oberst Aleksander Krzyzanowski ("Wilk"), der Bezirk Nowogródek unterstellt. Dies bedeutete, daß er die AK in einem Gebiet von 52 000 Quadratkilometern mit fast 2,3 Millionen Bewohnern befehligte.
Die Kontrolle der Deutschen über das Gebiet war schon vorher auf die Städte und die wichtigsten Verkehrsverbindungen zusammengeschrumpft, das Land beherrschten teils sowjetische, teils polnische Partisanen.
Die Zusammenstöße zwischen den seit 1943 verfeindeten Gruppen hörten nicht auf.
Erst Anfang Juli 1944 gelang es "Wilk", in Verhandlungen mit den Sowjets einen Waffenstillstand und eine partielle Kooperation für den kommenden Kampf gegen die Deutschen zu vereinbaren."
(Wlodzimierz Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a. M. 2001, S. 84.)
Der schon von Euch erwähnte deutsche Historiker Bernhard Chiari hat in dem Buch "Alltag hinter der Front" über die vergeblichen Versuche der AK, Wilna kampflos von den Deutschen zu übernehmen, geschrieben:
"Bis zum deutschen Rückzug blieb der Wahrheitsgehalt dieser und weiterer Berichte über lokale Bündnisse zwischen der Wehrmacht und der [polnischen] Heimatarmee sowie die tatsächliche Haltung der Londoner Exilregierung ungeklärt.
Ideen von einem deutsch-polnischen Bündnis gegen die Sowjetunion spukten durch die Köpfe der deutschen militärischen Führung in Weißrußland.
Noch am 3. Juli erhielt die Heeresgruppe Mitte eine Nachricht vom Militärkommandanten in Wilna, nach der das polnische Oberkommando den Deutschen ein Ultimatum gestellt habe. Die Armia Krajowa bot zum letzten Mal das Zusammengehen mit der Wehrmacht an und drohte, andernfalls die Stadt zu stürmen.
Etwa 5 500 Soldaten der Armia Krajowa waren schließlich, beginnend mit dem 6. Juli, an den Kämpfen um Wilna beteiligt. Unter dem Kommando von Oberst Krzyzanowski unterstützten diese polnischen Brigaden die Angriffsoperationen der sowjetischen 3. belorussischen Front. [...]"
(Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941-1944, Düsseldorf 1998, S. 299.)
Aus Sicht der deutschen Besatzungstruppen stellte sich das Angebot der Armia Krajowa zur "Übernahme Wilnas" aber weniger als "Zusammengehen mit der Wehrmacht" denn als deutsche Teilkapitulation dar.
Der Verleger, Kriegsveteran und Jurist Dr. Rolf Hinze hat in seinem Standardwerk "Das Ostfrontdrama 1944. Rückzugskämpfe der Heeresgruppe Mitte" auf das Mißtrauen der örtlichen deutschen Kommandobehörden (und Hitlers hirnverbrannte "Führerbefehle") hingewiesen:
Quote„Die Sowjets bereiteten diesen Vorstoß auf ihre Art vor. Beim Kommandanten des „Festen Platzes“ Wilna erschienen eines Tages polnische Unterhändler mit dem Angebot, rings um Wilna herum liegende polnische Banden in Stärke von etwa 10 000 bis 12 000 Mann zur Verteidigung dieses Landesbereiches gegen die Sowjets einzusetzen, allerdings unter der Bedingung, daß die deutsche Führung die Stadt Wilna kampflos übergäbe. Solches widersprach jedoch bestehendem Führerbefehl, so daß die Heeresgruppe hierzu ihre Zustimmung nicht erteilen konnte.
Später stellte sich dieser Verhandlungsversuch als - wahrscheinliches - Ergebnis sowjetischer Aufweichungsbemühungen heraus. Nach dem Infiltrationssystem hätte man dann sowjetische Banden oder Rotarmisten durch die deutsche HKL einschleusen können und Wilna kampflos gewonnen.“
(Rolf Hinze, Das Ostfrontdrama 1944. Rückzugskämpfe der Heeresgruppe Mitte, Stuttgart 1988, S. 92.)
Im offiziellen militärhistorischen Geschichtswerk Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 8, Die Ostfront - Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten, München 2007, wird auf Seite 565 im Anmerkungsapparat auf Hinzes Ostfrontdrama hingewiesen:
“Zur Sekundärliteratur vgl. Hinze, Das Ostfrontdrama 1944, S. 103 ff. und 120 f.”
Wie wir bei Wlodzimierz Borodziej gelesen haben, war das deutsche Mißtrauen auch durchaus begründet, wie die länger andauernden und schließlich erfolgreichen Verhandlungen der AK-Führer mit den Sowjettruppen über einen gemeinsamen Vormarsch zeigen:
"Erst Anfang Juli 1944 gelang es "Wilk", in Verhandlungen mit den Sowjets einen Waffenstillstand und eine partielle Kooperation für den kommenden Kampf gegen die Deutschen zu vereinbaren."
(Wlodzimierz Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a. M. 2001, S. 84.)
Aus den Erfahrungen beim Wilna-Aufstand "Burza" ("Ostra Brama") bez. einer möglichen echten Kooperation mit der Roten Armee hätte man bez. Warschau lernen können: Die Auslösung des Warschauer Aufstandes war, nach milit. Gesichtspunkten, eine Fehlleistung der AK-Führung - das sehen inzwischen auch seriöse poln. Historiker in ähnlicher Weise.
Wie die "echte Kooperation mit der Roten Armee" aussah, ist doch am Beispiel Wilnas genau dargestellt worden.
Wlodzimierz Borodziej hat doch beschrieben, wie nach dem gemeinsamen Einmarsch von AK und Roter Armee Stalins Befehle zur Zerschlagung der bewaffneten "Nationalpolnischen Gruppierungen" in Litauen wie vorher in Wolhynien durchgeführt wurden.
Insgesamt fielen am Ende 20.000 Kämpfer der Armia Krajowa den sowjetischen Truppen zum Opfer.
Unter Stalins Herrschaft konnte es ebensowenig andauernde Freiheit geben wie unter Hitler.
Vgl. das Zitat aus Wikipedia:
"Die A.K.-Angehörigen wurden am 15. Juli von NKWD-Truppen unter dem Befehl von Iwan Serow entwaffnet und ihre Offiziere einschließlich des Befehlshabers Krzyżanowski verhaftet. Einheiten der A.K., die sich dem Befehl zur Entwaffnung widersetzten, wurden von den sowjetischen Truppen zerschlagen, wobei viele A.K.-Angehörige getötet wurden."
http://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Bagration
Es wurden nur noch Verbände mit kommunistischer Ausrichtung unter sowjetischer Führung geduldet.
Schließlich hatte Stalin nach Aufdeckung einiger sowjetischer Massenmorde an polnischen Staatsbürgern 1943 bereits jegliche Beziehungen zur polnischen Exilregierung in London abgebrochen:
QuoteTrotz der Bitten von Roosevelt und Churchill, es nicht zu tun, erklärte Stalin am 25. April 1943 den Abbruch der Beziehungen zu Polen. Damit isolierte er Polens Exilregierung in der Anti-Hitler-Koalition und stellte die Weichen für ein kommunistisches Nachkriegspolen ohne Rücksicht auf westliche Interessen.[5]
https://de.wikipedia.org/wiki/…In_England_(ab_Juni_1940)
Trotzdem hatte die der polnischen Exilregierung unterstehende AK tapfer an der Seite der Roten Armee die Einnahme Wilnas unterstützt:
Quote"Die AK, mittlerweile etwa 6000 Soldaten stark, kämpfte vom 7. Juli bis zur Kapitulation der Reste der deutschen Garnison am 13. Juli auf sowjetischer Seite.
[...]
Am 14. Juli meldete einer der Untergebenen Krzyzanowskis nach London: "Wilna erobert unter großer Beteiligung der AK, die in der Stadt ist. Große Vernichtungen und Verluste. Beziehungen zur Sowjetarmee augenblicklich korrekt. Gespräche werden geführt. Wilna hat einen sehr kurzen, aber wie erfreulichen Augenblick der Freiheit erlebt. 14 VII - das Polentum der Stadt ist augenfällig."
Der "Augenblick der Freiheit" sollte in der Tat "sehr kurz" bleiben. [...]"
(Wlodzimierz Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt a. M. 2001, S. 86-87.)
"Das Polentum der Stadt" war laut Borodziej natürlich auch deshalb augenfällig, weil im Juli 1944 fast nur noch polnische Einwohner in Wilna zurückgeblieben waren:
"Am 3. Juli erging an die AK-Einheiten der Bezirke Wilna und Nowogródek der Befehl, für den 7. Juli kurz vor Mitternacht in Angriffsstellung vor der Stadt bereitzustehen.
Die Operation Ostra Brama entpuppte sich allerdings als Fehlschlag.
[...]
Der wichtigste Grund für den Mißerfolg bestand vermutlich jedoch in den Veränderungen in der Stadt selbst. Zwar verließen bis zum 4. Juli litauische Kollaborateure, deutsche Beamte und Zivilisten beider Nationalitäten oftmals fluchtartig die Stadt; sie soll in der zweiten Juliwoche von nicht mehr als 70 000 bis 80 000 Menschen, hauptsächlich Polen, bewohnt gewesen sein."
(Borodziej, Der Warschauer Aufstand 1944, S. 84-86.)
Leider imaginiert Borodziej dann eine deutsche Truppenstärke von über 17 000 Soldaten in Wilna (eine typische sowjetische Übertreibung), wo doch in den maßgeblichen deutschen Darstellungen von nicht mehr als 4000 Mann Kampftruppen in der Stadt ausgegangen wird:
"Insgesamt 4000 deutsche Soldaten saßen in der Falle.”
(Karl-Heinz Frieser, Der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944, in: Karl-Heinz Frieser, Klaus Schmider, Klaus Schönherr (Hrsg.),Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd.8, Die Ostfront - Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten, München 2007, S. 563.)
Selbst die 3. Panzerarmee ohne Panzer und mit wenig KfZ von Generaloberst Reinhardt verfügte in den anhaltenden Rückzugskämpfen nur noch über maximal 4000 Soldaten (anstelle von Kampfpanzern verfügte sie aber Anfang Juni 1944 über 60.000 Pferde, war also eher als
3. Pferdearmee anzusehen (ebenda, S. 532)).
Wo sollten da die angeblich weiteren 13.000 kampfbereiten deutschen Soldaten in Wilna hergekommen sein, wie Borodziej meint.
Aus polnischer Sicht hört es sich so aber vermutlich besser an, als wenn wie realiter 4000 angreifende AK-Kämpfer von 4000 deutschen Soldaten schnell abgewehrt werden konnten:
"Der Angriff der AK auf Wilna begann am 7. Juli nach Mitternacht und blieb nahezu sofort im Sperrfeuer der Verteidigung liegen. Nach wenigen Stunden zogen sich die Partisanen morgens und am Vormittag auf ihre Ausgangspositionen zurück.
Am selben Tag erschienen die ersten sowjetischen Panzereinheiten der 3. Belorussischen Front vor der Stadt."
(Borodziej, a.a.O.)
Zum Abschluß möchte ich noch einmal die jüdische Partisanin Rachel Margolis zitieren, die hier früher schon erwähnt wurde. Sie berichtet über die Begegnung ihrer sowjetischen Partisanen mit einigen beim Angriff auf Wilna zurückgeschlagenen AK-Soldaten:
"Wir stoppten junge Burschen, AK-Leute, abgerissen und schmutzig. Einer erzählte:
"Wir haben eine Position neben dem Friedhof in Rossa eingenommen, neben einer steinernen Brücke über die Bahngleise. Wir träumten davon, in die Stadt einzudringen und das Zentrum einzunehmen.
Schließlich ist das unsere Stadt, eine polnische Stadt! Und schließlich haben uns die Sowjets erlaubt, um sie zu kämpfen."
Der Junge weinte und konnte nur mit Mühe weitersprechen.
"Es war ein furchtbarer Kampf. Die Deutschen setzten Panzer und Kanonen gegen uns ein. Alle sind gefallen. Nur die, die es schafften, in Deckung zu gehen, haben überlebt. Alle sind tot! Wir haben verloren!"
Im Wald waren sie unsere Feinde gewesen, aber jetzt taten sie mir leid. Die Unseren hatten gesiegt. Vom Flugplatz aus starteten weiter Flugzeuge, bombardierten die Stadt, und die Lautsprecher riefen fortwährend zur Kapitulation auf.
Mitglieder unserer Partisaneneinheit kamen, um uns abzulösen. Wir konnten uns ausruhen."
(Rachel Margolis, Als Partisanin in Wilna. Erinnerungen an den jüdischen Widerstand in Litauen, Frankfurt 2008, S. 218 f.)
Grüße,
Bodo