Hallo Herbert,
bis kurz vor seinem Tod im August 2016 mit 96 Jahren war mein alter Herr ein sehr aufgeweckter und interessierter Mensch, von Demenz und Altersschwäche keine Spur! Noch mit 95 Jahren rannte er die 12 Treppenabsätze im Wohngebäude meiner Eltern in Delmenhorst 3 - 4 mal täglich rauf und runter - während ich selbst schon beim ersten Mal völlig aus der Puste kam. Als sich anfangs der 90er Jahre die Gelegenheit auftat, die Ukraine und auch Russland zu bereisen, war mein alter Herr trotz seiner damals fast 75 Jahre sofort dabei. 3 aufeinander folgende Sommer waren wir dort zwischen 6 und 8 Wochen unterwegs. Im ersten Sommer in der West- und Zentralukraine vom Bug bis nach Kiew und in die Gegend, wo die 168. ID am Ost-Rand des Kiewer Kessels bei Beresan und Baryshevka im September 41 in harten Kämpfen gegen die Ausbruchsversuche der Russen aus dem Kessel zu überleben hatte. Im folgenden Sommer waren wir im Gebiet Sumy (Ukraine), weiter in den Gebieten Belgorod, Kursk und Woronesh unterwegs, u.a. im Dorf Yakovlevo an der Straße von Belgorod nach Obojan, wo die Stäbe der 168. ID im Winter 41/42 relativ lange lagen, sowie in Ostrogozhsk, am Don in Uryw / Storozhevoe und Shchuchye, wo die beiden Brückenköpfe der Roten Armee waren, danach noch zu einem Privatbesuch 200 km weiter nördöstlich im Gebiet Tambov (wo der Landkrieg gottlob nie hinkam). Den 3. Sommer verbrachten wir unterwegs über Prochorovka, Belgorod, Tomarovka, Grayvoron, Achtyrka, Kremenchug, Tcherkassy, Winiza,, Zmerinka, Kamenez-Podolsk, bis nach Kolomyia südlich Ivano-Frankovsk (Stanislav), wo mein Vater im März 1944 schwer verwundet wurde und er endgültig die 168. ID verlassen musste. Auf all den Reisen bemerkte Vater zwar, dass sich in den inzwischen 50 vergangenen Jahren die Beschaffenheit des Geländes stark verändert hatte, aber trotzdem erkannte er bestimmte Wegmarken und Örtlichkeiten wieder - und manche, nicht immer sehr angenehme Erinnerung kam wieder hoch.
Für einen "normalen" Obergefreiten der Wehrmacht hatte mein Vater deutlich mehr Einblick in die Situation vor Ort als er de facto haben durfte, dies lag nicht zuletzt an der langjährigen Tätigkeit als Schreiber Ib und der Vertrauensbasis zu seinem Vorgesetzten Offizier von dem Knesebeck, der gegenüber meinem Vater stets sehr offen und deutlich seine Meinung vertrat und die gleiche Offenheit auch von meinem Vater verlangte. Major (später Oberstleutnant) von dem Knesebeck war auch einer Einzige in der Division, der von den russischen Sprachkenntnissen meines Vaters wusste und manchmal auch profitierte - er schützte seinen einzigen Stabsschreiber (trotz Planzahl gab es keinen zweiten Mann!) vor dem Zugriff von Ic, wohin mein Vater sofort gekommen wäre, wenn dort seine besonderen Sprachkenntnisse bekannt geworden wären. Niemand wollte ganz freiwillig zu den Gefangenenvernehmungen als Dolmetscher bei Ic, der Job war gefährlich - spätestens wenn man selbst in Gefangenschaft geriet. Auch seine persönlichen Notizen verfasste mein Vater in einer von ihm abgewandelten Form von Stenographie und er behielt die Kladde immer direkt bei sich - von diesen Aufzeichnungen durfte selbst von dem Knesebeck nichts wissen. Mein Vater hatte durch seine Tätigkeit Zugang zu Kartenmaterial und Unterlagen, auch zum Inhalt von Telefongesprächen (er saß auch am "Klappenschrank"), die weit über das normale Maß hinausgingen, aufzeichnen durfte er das alles eigentlich nicht! Dazu kamen noch die Informationen die von dem Knesebeck an ihn weitergab, außerdem hat er oft von dem Knesebeck auf Frontfahrten begleitet, z.B. im Herbst/Winter 42 zu den Ungarn am Brückenkopf Uryw und am Brückenkopf Shchuchye am Don. Von dem Knesebeck war stets ausgezeichnet über die Frontlage - nicht nur im eigenen Abschnitt- informiert. Er hatte einen Zwillingsbruder, der 1942/43 als Ia einer Pz.Div. bei der 2. Pz.Armee (später bei der 9. Armee) tätig war und den er mehrmals pro Monat von meinem Vater handvermittelt anrief.
Natürlich sind die Kopfzahlen beim Ausbruch aus Ostrogozhsk und bei Erreichen der HKL (ohne GR(IR)429!) Schätzungen, dies waren die Schätzungen die von dem Knesebeck gegenüber meinem Vater nannte als sie im Februar 43 bei Belgorod wieder zusammentrafen und das Dienstgeschäft Ib in einem neuen BefehlsKOM wieder aufgenommen werden konnte, der alte BefehlsKOM war noch in Rybnoe bei Ostrogozhsk um den 10. Januar 43 bei einem Il2 Angriff der Russen ausgebrannt.
Was letztendlich in den KTBs der höheren Stäbe (Korps, Armee, Heeresgruppe) an Eintragungen gemachte wurde, war schon sehr weit weg vom Originalschauplatz, die Fakten, Ortsnamen waren dann nicht immer gesichert, um so mehr als dort das Führen (Schreiben) des KTB meist den jüngsten Adjutanten überlassen wurde, manche hatten auf der Offiziersschule besser aufgepasst als andere, beliebt war das Führen des KTB jedoch nie, zumal die OB mehr oder weniger oft nachkontrollierten und Nachbesserung einforderten. Wenn jedoch eine Ansammlung von Stabsoffizieren einer Division in einen Hinterhalt geriet und Verluste hatte, dann sollte dies auch präzise festgehalten werden. Die Verluste - die ich gestern hier angegeben hatte, sind diejenigen nach den Notizen meines Vater, die auf den Worten von dem Knesebecks basierten, die dieser gegenüber meinem Vater wenige Stunden nach dem Ereignis im Stabsquartier in Koltunovka gemacht hat. Von dem Knesebeck als Ib war bei dem Hinterhalt Augenzeuge und überlebte, der ihm zugeteilte Adjutant fiel. Kann sich das "stv. Ib" aus Deiner Quelle für den 20.1.43 darauf beziehen? Leider geben die Aufzeichnungen meines Vaters weder Dienstgrad noch Namen des Adjutanten her?
Nein, weitere brauchbare Quellen habe ich nicht zusätzlich benutzt, zwar kenne ich das Buch von Morosov "Westlich von Woronesh", bin aber allen sowjetischen und russischen Quellen zwischen 1945 und 1995 sowie ab 2013/14 gegenüber sehr skeptisch was Zahlen, Daten und Fakten angeht. Außerdem ist mir aufgefallen, dass sich die russische Version und die deutsche Übersetzung des Morosov Buches nicht unerheblich voneinander unterscheiden. Das Buch von Lajos Vollner "Das Schicksal ungarischer Soldaten am Don/Russland zwischen 1942/43" über den Einsatz der 2. ung. Armee am Don habe ich 2011 zwar ergattern können (inzwischen rettungslos vergriffen!), mein Vater war jedoch nach der Lektüre hochgradig unzufrieden, weil das Buch, das überwiegend auf den Aufzeichnungen des Vaters von Lajos Vollner basiert, unisono nahezu ständig nur die Benachteiligung der Ungarn durch die Deutschen beklagt, dagegen aber mit fast keinem Wort darauf eingeht, warum die ungarischen Soldaten bei der russischen Zivilbevölkerung im Dongebiet vollkommen verhasst und gefürchtet waren (sogar das Ansehen der Deutschen rangierte noch darüber!). Dieser Einstellung setzt sich bis heute fort: der 2003 eröffnete große ungarische Soldatenfriedhof in Rudkino (auf den Donhöhen bei Gremyachye) mit ungefähr 11.000 beigesetzten Soldaten und Offizieren ist zwar eingezäunt mit verschlossenem Tor, wurde aber inzwischen mehrmals geschändet.
Das 1997 errichtete ungarische Ehrenmal in Uryw (mit Friedhof für 9000 Ungarn) wurde bis 2010 mindestens drei Mal von "Unbekannten" gesprengt. Die älteren Dorfbewohner der Gegend sagen noch heute: "bei der Befreiung haben die Unsrigen die Deutschen gefangen genommen, ungarische Gefangene wurden nicht gemacht!"
Ich habe nachgeschaut, ob und was Vater am 13.1.43 über die Dislozierung von 417 nach Beresovo eingetragen hat. Er hat es zwar kurz vermerkt, allerdings mit dem Zusatz, dass 417 noch vor der endgültigen Einschließung von Ostrogozhsk in die Stadt zurückkehrte. Nebenbei: Beresovo liegt vom Flüsschen Potudan bei Soldatskoye auch nur weniger als 6 km entfernt!
Tatsächlich wurden von der 168. ID - als "Korsettstangendivision" zwischen den Ungarn - Regimenter im Rotationsverfahren an die Brennpunkte geschickt, besonders bei den mehrmalig gescheiterten Versuchen, den Brückenkopf von Uryv/Storozhevoje einzudrücken waren Einheiten der 168. ID beteiligt. Ausbildung bei den Ungarn wurde eigentlich nicht gemacht, solche Abstellungen wären im Bereich Ib bekannt gewesen. Wohl gab es gegenseitige Offiziersbesuche, Verbindungsoffiziere waren benannt worden und die Stabsbesprechungen beim OB wurden gemeinsam durchgeführt.
Allerdings wurden auch einige Male Einheiten zur Verstärkung der Front im Brückenkopf Woronesh angefordert. Im August 1942 war u.a. das III. Bataillon IR 417 mit der früheren Kompanie meines Vaters (10./417) dort in der hart umkämpften Nord/Nordwestfront zwischen den Brennpunkten "Herzwald" (roshcha serdza) und "Handtuchwald" (roshcha dlynnaya - eigentlich "langes Gehölz") eingesetzt. Mit 88 Mann war 10./417 dorthin gefahren, nach 3 Wochen kehrten ganze 7 Mann zurück. Alle Schulkameraden meines Vaters aus Friedland / Krs. Falkenberg OS und aus Oppeln, die bis dahin noch in 10./417 am Leben waren, waren gefallen...
Ja, der vorgeschobene Divisionsgefechtsstand war vor dem 13.1. zwischen Yevdakowo und Kamenka in der Siedlung Timiryazevo. Die Russen hatten nach Neujahr 1943 begonnen, an verschiedenen Stellen der Front überfallartig nach "weichen Stellen" zu suchen - nicht nur von den Don-Brückenköpfen aus. Außerdem führte OB Kraiss seine Leute am liebsten "von vorne" - er war bei seinen Leuten sehr beliebt, denn wie viele ehemalige Frontleutnants des ersten Weltkrieges fühlte er sich zwischen "seinen Leuten" am wohlsten, außerdem trug er das Sturmabzeichen, dass er sich wirklich verdient hatte. Leider führte diese Eigenschaft im August 1944 bei Saint-Lo in der Normandie auch zu seinem Tod (als OB der 352. ID). Dort ruht er nun zwischen "seinen Leuten" auf dem Soldatenfriedhof La Cambe 15 km nördlich von Saint-Lo
Gruß
Nordmende