Hallo TAC
Du willst doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass Saul Friedländer nur den "Sauerteig des besseren Deutschen" bereitet (was immer diese Formulierung besagen soll)? Wobei er natürlich bei weitem nicht der einzige ist, der sich damit beschäftigt und zu sehr ähnlichen Befunden kommt. Gerade Friedländers Werk wird nicht ohne Grund als eines DER Standardwerke zum Thema Holocaust bezeichnet.
Dass man erste Gerüchte nicht unbedingt wahrhaben wollte, bedeutet nicht, dass man nicht die Wahrheit doch erkennen kann. Es hat ja niemand behauptet, dass die Hörer beim ersten Mal gleich alles erkennen mussten. Es blieb ja wohl auch nicht unbedingt bei diesem einen Male. Der Judenmord begann ja bereits in Polen 1939 - noch nicht als systematische Ermordung wie dann 1941, aber Gruppenerschießungen und Massensterben in Ghettos gingen keineswegs erst nach dem Überfall auf die UdSSR los. Und sogar davor gab es erste warnende Hinweise wie die massenhaften Verhaftungen im November 1938. Das war noch nicht der Holocaust (obwohl auch da schon in beträchtlicher Zahl gemordet wurde), aber es war ein erstes Indiz wohin es gehen konnte - zu dem sich dann leicht weitere gesellten.
Sicher waren die öffentlichen Reden Hitlers und Konsorten nicht SO offen wie Himmlers Geheimreden. Die man im übrigen auch so interpretieren kann, dass er zumindest ein gewisses Mitwissen/allgemeinen Grundkonsens postuliert, nur eben nicht die "Entschlossenheit", die er seinen Massenmördern attestiert. Sagte er nicht in etwa:„Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet‘, sagt ein jeder Parteigenosse‚ ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.‘" - nur mit der Umsetzung hätten die Leute Probleme, da kämen ihnen (anders als seinen Schlächtern) eben Einzelbedenken. Freilich spricht er ja wohl auch vom nicht darüber reden (aber das wurde eben nicht so eingehalten).
Aber der Terminus "Ende der jüdischen Rasse" oder dergleichen kam denn doch bei weitem zu oft vor, auch in den öffentlichen Reden.
Außer natürlich du willst unterstellen, dass alle Deutschen ihren "Führer" nur für jemanden hielten, der ins Blaue hineinrede und niemals etwas von dem umsetzen würde, was er so von sich gibt. Scheint mir nicht so plausibel.
Und ich widerspreche zumindest partiell der Behauptung, der Völkermord sei "das Unvorstellbare" gewesen. SO unvorstellbar war massenhaftes Morden ja nun wieder auch nicht, dass nicht offenkundig darüber geredet wurde. Die Wehrmachtssoldaten die in Gefangenschaft darüber reden verfallen nach dem was ich bei Neitzel gelesen habe beim Thema Massenmord ja gerade eben eher nicht in Schockstarre nach dem Motto das kann ja gar nicht wahr sein, wie konnten unsere Leute das nur tun. Häufiger ist es - wenn sie es angelegentlich thematisiert haben - ein "na und?". Moltkes Behauptung ist ja wohl eher seine Behauptung als eine eherne, auf umfassende Faktenbasis gestützte Wahrheit (mal abgesehen von der Frage, wie viele Deutschen hinterher denn zugegeben haben, dass sie was wussten). Und selbst wenn sie stimmen würde - was ich bezweifle - würde das eine Mitwisserschaft von Millionen bedeuten.
Ein Geheimnis aus etwas zu machen, an dem nicht tausende, nicht ein paar zehntausende sondern deutlich mehr Personen direkt oder als wissende Helfer beteiligt waren (Personal in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, Wachmannschaften im Umfeld der Ghettos bzw. bei den "Auflösungen", Beteiligte und Hilfspersonal bei den Grubenerschießungen in Polen und der UdSSR sowie den Deportationen in anderen Teilen des deutschen Machtbereichs, Personal in den Werken in denen massenhaft jüdische KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, im Reich wie in den besetzten Gebieten), war eben nicht so einfach. Zumal es ja auch noch andere Kommunikationskanäle gab. Die Reichsbahnleute, die Züge zusammenstellten, die "Ghetto-Touristen", jene die entsprechende Meldungen in ausländischen Nachrichtensendern hörten und so weiter, und so weiter. Und natürlich all jene, die von einem der oben Genannten Näheres hörten. Selbst in einer Diktatur wurde geredet.
Ein gutes Beispiel ist, wie relativ schnell sich das Morden im Rahmen der T4-Aktion herumsprach. Dabei war an der Aktion deutlich weniger Personal beteiligt, und die Zahl der als Opfer betroffenen Deutschen war natürlich einiges kleiner - und Hitler sprach wohl weitaus weniger häufig in seinen Reden über den angeblichen "Gnadentod", als über das "Ende der jüdischen Rasse" (das ist jetzt freilich eher geraten). Dies scheint mir doch eher dafür zu sprechen, dass selbst eine von vorneherein klandestin aufgezogene Massenmordaktion so perfekt geheim nicht bleiben kann und recht schnell ein relativ weit verbreitetes Wissen - wenn auch natürlich nicht über alle Details - hergestellt war. Für den Holocaust galt dies natürlich noch viel mehr.
Die Behauptung, die deutsche Geschichtswissenschaft würde vehement zunehmend behaupten, alle wüssten alles und zwar schon ab Ende 1941, ist in meinen Augen einfach falsch.
Nun will ich nicht sagen, dass es nicht Einzelstimmen gibt, die so weit gehen (ich würde dem zu diesem frühen Zeitpunkt widersprechen, ohne freilich in solch hochgestochene volkspsychologischen Sphären aufzusteigen, wie du es anscheinend immer wieder mal tust). Aber daraus einen dominierenden Trend zu machen ist wirklichkeitsfern. Eine merkwürdige Diskussionskultur scheint mir das, dem Gegenüber (ob anwesend oder nicht) Dinge zu unterstellen, damit er sich gegen etwas rechtfertige, was so nicht behauptet wurde.
Du hast eine interessante Haltung, hier immer eine "ausgewogene" Sichtweise zu propagieren, zugleich aber kein Problem damit, die deutsche Geschichtsschreibung nahezu schon in Bausch und Bogen zu verdammen, so lange sie deiner Sicht der Dinge zu widersprechen scheint. Das Postulat "neutrale ausländische Historiker" ist in meinen Augen eher ein Scheinargument indem du dabei nur das herauspickst was deine Sicht der Dinge stützt. Wer in Inland und Ausland anderer Ansicht ist (egal mit welch guten Argumenten) - ist der dann "nicht neutral"? In deinen Augen anscheinend schon.
Die Argumente der Gegenseite als befangen zu erklären scheint mir einer Diskussion aber schwerlich zuträglich - und schwächt auch eher die eigene Position, denn dass es sie stärkt.
Und du ignorierst ja wohl auch standhaft jene gar nicht so wenigen Zeitzeugen (von denen einige auch hier zitiert wurden, tw. aus dem familiären Umfeld) die sehr wohl etwas gewusst hatten - ohne dass sie an besonders privilegierter Stelle saßen um Zugang zu bekommen.
Das Argument, die Geschichtsschreibung sei nach 1990 moralisierender geworden, kann ich in dieser Art und Weise nur als Fehlwahrnehmung betrachten, und ich nehme an, das erkennst du auch. Es würde ja postulieren, früher sei man "neutraler" gewesen. Dies zu behaupten gerade für eine Geschichtsschreibung, die ja auch angelegentlich - mitunter gar ganz massiv - durch den Systemkonflikt des Kalten Krieges mit beeinflusst bzw. durch ihn wegen mangelnder Zugänge zu den Quellen gehandicapt war, scheint mir schon sehr gewagt, vorsichtig ausgedrückt.
Die genannten "Mahnungen" sind wohl eher Meinungen, die nicht selten überspitzt sind, wenn nicht gar ganz und gar falsch.
Dass der Zeitzeuge der Todfeind des deutschen Historikers sei ist natürlich schon eine absurde Behauptung, die man sich selbst als ironische Zuspitzung ja wohl eher verkneifen sollte.
Gewiss muss man beim Umgang mit Zeitzeugenaussagen immer mit Vorsicht agieren (aber das muss man bei Dokumenten aus der Zeit selbstverständlich auch). Der Zeitzeuge darf für eine seriöse Geschichtsschreibung nicht als der ultimative Born der Weisheit betrachtet werden, der die reine, ungefilterte und unmittelbare Wahrheit verkündet. Seine Erinnerung ist Überformungen ausgesetzt, er entscheidet nicht selten bewusst was er weitergibt oder hat sich unbewusst eine Erzählung zurechtgelegt.
Aber das heißt nicht, dass seine Aussagen in Bausch und Bogen verworfen werden (eher im Gegenteil), gar dass eine systematische Feindschaft gegenüber Zeitzeugen bei den Historikern vorherrsche. Eher scheint mir, dass in den letzten gut zwei Jahrzehnten der Oral Historie ein erhebliches Gewicht beigemessen wurde, mit bemerkenswerten Ergebnissen. Und auch ich habe da sehr gute Erfahrungen gemacht.
Ich finde es deshalb wirklich schwer verständlich, wie man zu solchen Sichtweisen wie der deinen kommen kann. Das muss schon eine merkwürdige Subkultur sein auf die du dich beziehst (wenn sie denn existiert), der ich sonderbarerweise bei allen Kollegen mit denen ich zu tun hatte, niemals begegnet bin (und ich müsste schon sehr nachdenken, um sie in einem Buch zu finden, von denen hunderten, die man so eben liest). Da muss ich ja wohl blind und taub durchs Leben gegangen sein bisher, dass ich diesen angeblich zentralen Trend der deutschen Geschichtsschreibung, die vehemente Ablehnung des Zeitzeugen, so wenig erlebt habe. Tja, Sachen gibt es...
Hallo Wolfgang
Ich denke, hier sollte man zwischen der Diskussion der Schuld und einem juristischen Schuldspruch unterscheiden. Es gibt auch auch so etwas wie moralische Mitverantwortung, jenseits des formal juristischen. Man kann nicht der Justiz die GANZE Schuld/Verantwortungsdebatte überlassen - denn ihre Aufgabe ist eine andere als die der Soziologen/Historiker. Juristen sollen Tatbestände feststellen - nicht erklären, wie es generell zum Massenmord kam, wie weit er einem antisemitischen Grundkonsens entgegenkam etc. Juristen haben ja auch gar nicht das Werkzeug, um - sagen wir mal - so etwas wie eine Gesamtuntersuchung zum System der Konzentrationslager (wie Wachmanns "KL") oder des Holocaust (wie Friedländers "Jahre der Vernichtung") zu verfassen. Ich denke nicht, dass das Nicht-Juristsein dabei ein unüberwindbares Hindernis ist.
Ich stimme zu, dass man mit klaren Verdickten dem oder jenem hätte diese oder jene Strafe gebührt als Nichtjurist vorsichtig sein muss - aber dergleichen wird in der Zunft auch eher selten praktiziert. Doch hätte man allein der Justiz die Diskussion überlassen, wo wären wir dann jetzt? Hat die Justiz nicht auch aus der Geschichtsschreibung Anregungen und Hinweise erhalten?
Ich bin kein überzeugter Freund des Arguments, man müsse darüber reden, um eine Wiederholung zu verhindern, weil ich nicht recht glaube, dass sich Geschichte wirklich wiederholt. Allerdings ist es schon lehrreich, sich ausführlich mit den Spielräumen, über die der einzelne auch in einer Diktatur verfügt, mit alternativen Handlungsweisen etc. zu befassen. Sie lassen eine Annäherung an die Frage zu, wie es möglich war und sind zwar nicht als Abziehfolie, aber doch als Vergleichsraster auch für andere Vorgänge/Strukturen/Tendenzen anwendbar. Natürlich darf das nicht ins simple Gleichsetzen abgleiten.
Mit freundlichen Grüßen
Marc