Überfall auf Polen: Drohte der Wehrmacht zum Ende hin die Munition auszugehen ?

  • Guten Abend !

    In einer Fernsehdokumentation sagt Karl-Heinz Frieser folgendes:

    " Seltsamerweise ist in fast keinem Geschichtsbuch zu finden, dass die Wehrmacht am Ende des Polenfeldzugs vor einem logistischen Kollaps stand. Es gab keine Munition mehr. Sie hatte ihr Pulver verschossen. Nur das schnelle Ende dieses 18-tägigen Feldzugs bewahrte sie vor einer Katastrophe. "

    (YouTube, Die Blitzkrieg-Legende - Frankreichfeldzug 1940 (Spiegel TV), 1/8, ab Minute 21:07)

    Link mit Zeitmarke:

    https://www.youtube.com/watch?v=mdoYop…8BrmIk#t=21m06s

    Im Axis History Forum fand ich einen Thread zur deutschen Munitionslage Ende Sept. 1939.

    Die ersten handfesten Angaben scheinen der Aussage von Karl-Heinz Frieser zu widersprechen, zitiert nach Burkhart Müller-Hillebrand. Es werden allerdings nur Zahlen für 7 Geschützarten zitiert.

    Direktlink:

    https://forum.axishistory.com/viewtopic.php?p=2070044#p2070044

    Eine bildliche Bestätigung findet sich unter Der Munitionsverbrauch der deutschen Wehrmacht von 1939 bis zum Beginn des Ostfeldzuges 1941, Gerhard Donat, Allgemeine schweizerische Militärzeitschrift, Band 131, 1965, Heft 8, hier in PDF Seite 4:

    https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=asm-004:1965:131::1107

    Dort auch die exakte Quellenangabe:

    Müller-Hillebrand, Das Heer 1933 bis 1945, Band II, S. 55

    In der darauffolgenden Antwort (Nr. 11) ist ein Foto aus Fall Gelb, Hans-Adolf Jacobsen (S. 24) verlinkt, die Angaben sprechen für die nach Burkhart Müller-Hillebrand.

    https://ic.pics.livejournal.com/paul_atrydes/2…63_original.jpg

    Antwort Nr. 12 zitiert Angaben von Wolfgang Fleischer.

    ( Deutsche Abwurfmunition bis 1945, Motorbuch Verlag, Stuttgart 2003, S.69)

    Rückübersetzung: "Gravierender war die Tatsache, dass in den 3 Wochen dieses Feldzugs (Polen) nahezu alle 50 kg und 250 kg Bomben aufgebraucht waren. Zu Beginn des Krieges lag der Bestand über 20 000 ( bezieht sich wahrscheinlich auf die 250 kg Bomben ). Ende September 1939 waren nur die Brandbomben B1E und 10 kg-Splitterbomben in ausreichender Stückzahl vorhanden. "

    Antwort Nr. 18: Foto mit einer Aufstellung aus Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. V/I, S. 554/555. Die Liste beginnt aber erst mit Oktober 1939.

    https://forum.axishistory.com/download/file.…98459&mode=view

    Antwort Nr. 22: Foto vom "Verbrauch an Munition, Sprengbomben, Torpedos, Sperrwaffen in Schuss- bzw. Stückzahlen".

    Mit einer Aufstellung zum "Verbrauch des Ostheeres vom 1.09. - 31.10.1939", jedoch ohne Angaben zum Anfangsbestand.

    Quelle ist nicht genannt.

    https://forum.axishistory.com/download/file.…98886&mode=view

    In der PDF der Arbeit von Gerhard Donat steht auch:

    "Im Kriegstagebuch Halder findet man unter der Besprechungsnotiz mit General Thomas am 29. September 1939 die Bemerkung, daß die Luftwaffe im Poleneinsatz eine halbe Monatsfertigung (Bomben- und Bordmunition) verbraucht habe."

    (Dort: PDF Seite 3. In der mir vorliegenden engl. Übersetzung des KTB Halder vom Office of Chief Counsel for War Crimes steht das auf S. 17)

    Überdies habe ich noch eine Aufstellung auf Panzerworld.com gefunden. Dort steht, dass der Verbrauch im September die Produktion im selben Zeitraum bei weitem überstieg - was ja, wie die nach Wolfgang Fleischer zitierten Angaben, nichts über die Gesamt-Munitionslage Anfang Oktober 1940 aussagt.

    https://panzerworld.com/poland-1939

    > German Ammunition Usage, im unteren Drittel

    Soweit das, was ich zur Aussage von Karl-Heinz Frieser gefunden habe.

    Nun also, drohte der Wehrmacht gegen Ende des Überfalls auf Polen die Munition auszugehen oder eher nicht bzw. keineswegs ?

    Mit Grüßen aus Berlin

    Marco

  • Hallo Marco,

    ich habe im Moment leider sehr viel zu tun -u.a. drängt mich der Redaktionsschluß meines aktuellen Buchprojekts und die "normale" Arbeit- und kann daher in die Beantwortung Deiner Frage nicht näher einsteigen. Da ich den von Dir auch zitierten "Donat" vor 5 Jahren einmal durchgearbeitet hatte, kann ich Dir diesen nur empfehlen. Ich möchte annehmen, daß Du hier die wesentlichen Antworten finden dürftest.

    Kurz gesagt: "es stimmt." Die Munitionsbestände waren -je nach Mun-Art unterschiedlich- sehr weit heruntergefahren, bei einem womöglich sich anschließenden Kampf etwa gegen Frankreich hätte die Mun nicht lange gereicht. Zudem war die Industrie nicht in der Lage, solche Mengen "spontan" nachzuliefern oder sogar nachzufertigen. ( Kurz gesagt: man hatte es versäumt, rechtzeitig bei der Industrie die Nachproduktion, zudem in entsprechend großen Mengen, in Auftrag zu geben....

    Hätte es nicht gegen Frankreich einen mehrmonatigen "Sitzkrieg" gegeben, dann hätte man tatsächlich "schlechte Karten gehabt"...

    => Das ist nur eine grobe Kurz-Darstellung ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

    Vielleicht kann ein Kollege hier noch detaillierter antworten und entsprechende Quellen-HInweise geben.

    Danke.

    Herzliche Grüße und viel Erfolg,

    Uwe

    An Informationen zur Heeres-Neben-Muna Kupfer, Muna Siegelsbach, Muna Urlau, Muna Ulm und zur Aggregat 4 - speziell Logistik für den Verschuß und den Eisenbahntransport- interessiert.

  • Hallo zusammen!

    @ Marco

    Deine Eigeninitiative zur Beantwortung der Fragestellung ist prima!

    Das von Frieser gezeichnete Bild ist so natürlich nicht haltbar. Obgleich völlig außer Frage steht, dass der Munitionsverbrauch in den ersten Kriegswochen die Fertigung deutlich überstieg, stand ein Zusammenbruch der Munitionsversorgung nicht bevor (siehe Anhang 1). Die in der Literatur immer wieder diskutierte "Munitionskrise" war ein Produkt zeitgenössischer Kalkulationen. Mangels aktueller Vergleichsmöglichkeiten musste man bei der Berechnung des zu erwartenden Munitionsverbauchs die Erfahrungswerte des Ersten Weltkriegs berücksichtigen. Darüber hinaus war der Westfeldzug weder als "Blitzkrieg" geplant, noch wurde mit einem raschen Zusammenbruch der französischen Armee gerechnet. Vor diesem Hintergrund stand also durchaus ein Mangel zu befürchten. Der unabsehbar günstige Kriegsverlauf im Westen führte dann jedoch dazu, dass kaum Munition verschossen wurde (siehe Anhang 2, 3, 4). Tasächlich verschoss man so wenig Munition, dass die Bestände im November 1939 leicht ausgereicht hätten, um die Munitionierung der Truppen zum ursprünglich anvisierten Angriffstermin, Mitte des Monats, sicherzustellen (siehe Anhang 5). Bei manchen Fundstellen in der Literatur darf außerdem nicht vergessen werden, dass Teile der Generalität einen Waffengang im Westen - unmittelbar nach Beendigung des Polenfeldzugs - vehement ablehnten und daher nach Argumenten für eine Verschiebung suchten.

    MfG

  • Guten Tag Rote-Kapelle !

    Eigentlich ergibt bereits die Abzugsrechnung aus den Angaben 'Vorrat 5.1.40' und 'Fertigung Dez.1939' (Antwort 22, Axis History), dass die Wehrmacht Ende Sept./Anfang Okt. 1939 sehr wahrscheinlich nicht bedrohlich knapp an Munition gewesen war.

    Es wäre allerdings vorstellbar, dass die Deutschen eben wegen des Erfahrens eines gravierenden Mangels zum Ende des Überfall hin, dann im Rest-Oktober + November Munition gefertigt hätten "wie die Verrückten".

    Eine abstruse Annahme angesichts der Rohstoff- und Logistikprobleme in jenem Zeitraum, keine Frage.

    Jedoch nicht ohne Bezugspunkt. Denn ohne genaue Kenntnis des Bestandes am 01.09. und/oder am Ende des Überfalls widersprechen Abzugsrechnung und die Aussage von Karl-Heinz Frieser sich nicht in jedem Fall.

    Die Angaben zum Vorrat am 20.11. aus Deinem 5. Anhang klären auch diesen Punkt.

    In dem Dokument steht zwar keine Jahreszahl, doch die Angaben korrespondieren ja mit denen aus Anhang 1.

    Bliebe folglich nur noch zu klären, weshalb Karl-Heinz Frieser nicht von kompetenter Stelle auf seinen Fehler hingewiesen wurde, resp. weshalb er sich später nicht korrigiert hat.

    Aber da in Gegenwart und Vergangenheit so vieles um einiges wichtiger ist und ein jeder nur ein Leben hat, wäre es wohl nicht verkehrt, wenn man es dabei mit einem saloppen "Nobody is perfect" gut sein lässt.

    Ich bedanke mich sehr für Deine Erläuterungen und die Anhänge !

    Mit freundlichen Grüßen

    Marco

  • Hallo Rote Kapelle,

    ich schreibe zurzeit eine Publikation zum Titel "Munition für die Front. Patronen aus dem Märkischen Walzwerk Strausberg". Mit Interesse habe ich die Dokumente unter dem 21.5.2021 gelesen. Aufgrund des Zählgerätes vermute ich das amerikanische National Archiv. Hast nähere Angaben zum Fundort? Ich würde gern drei Abbildungen verwenden.

    Viele Grüße

    Ulrich50


  • Hallo Ulrich,

    wie du schon richtig vermutet hast, entstammen alle Abbildungen NARA-Rollen. Bilder 1 und 5 findest du in T78 R146, den Rest in T78 R174.

    Stelle doch deine Publikation im Forum vor, wenn du fertig bist.

    Gutes Gelingen!

    MfG

    Whoever saves one life, saves the world entire.
    Talmud Jeruschalmi