Diskussionsthread zum Besuchsbericht der Gedenkstätten Auschwitz

  • Tag allerseits,

    SD [Außenstelle Stuttgart] III C 466
    Führungsbericht


    o.O., 6.11.1944 - IWM, Aus deutschen Urkunden 1933-1945, S. 275


    ... Die Beispiele von Nemmersdorf in Ostpreußen (NS-Kurier v. 4.11.1944 Nr.
    290) haben oft gerade das Gegenteil von dem erreicht, was damit beabsichtigt war.

    Die Volksgenossen sagen, es sei schamlos, diese in der deutschen Presse so groß heraus zu stellen [...]
    „Was bezweckt die Führung wohl mit der Veröffentlichung solcher Bilder wie
    die im NS-Kurier am Samstag? Sie müßte sich doch sagen, daß jeder denkende
    Mensch, wenn er diese Blutopfer sieht, sofort an die Greueltaten denkt, die wir im
    Feindesland, ja sogar in Deutschland begangen haben.

    Haben wir nicht die Juden
    zu Tausenden hingeschlachtet? Erzählen nicht immer wieder Soldaten, Juden hätten in Polen ihre eigenen Gräber schaufeln müssen? Und wie haben wir es denn mit
    den Juden gemacht, die im Elsaß im *KZ waren? Die Juden sind doch auch Menschen. Damit haben wir den Feinden ja vorgemacht, was sie im Falle ihres Sieges
    mit uns machen dürfen.“ (Zahlreiche Stimmen aus allen Bevölkerungskreisen).
    ----------------

    In den letzten Kriegsmonaten gab es nur noch Stimmungsberichte, die waren außergewöhnlich, nämlich ungeschönt, was die Judenverfolgung betraf. Dieser Stimmungsbericht beweist auch,

    dass fast ALLE Volksgenossen sehr wohl wussten, was mit den Juden geschah!


    Grüße

    Bert

  • Hallo pittt,

    spätestens seit Peter Longerichs Veröffentlichung "Davon haben wir nichts gewusst!": Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945" (2007, ISBN 978-3570550410) ist diese Argumentation weitestgehend hinfällig.

    Natürlich hatten nur Wenige "positives Wissen" über das, was in Deutschland damals passierte, aber die Menschen waren nicht so dumm, nicht zwischen den Zeilen lesen zu können! Auch wenn z. B. ehem. KZ-Häftlinge nach ihrer Entlassung zu Stillschweigen über das Erlebte verpflichtet waren, wurden doch Andeutungen gemacht, die für halbwegs intelligente Leute durchaus verständlich waren.

    In Saarbrücken z. B. will auch kaum jemand etwas vom Lager "Neue Bremm" und den Zuständen in diesem Lager gewusst haben, aber ein nicht unerheblicher Teil der Saarbrücker Bevölkerung durchquerte das Lager beim sonntäglichen Friedhofsbesuch. Das Lager war geteilt in ein Männer- und ein Frauenlager, lediglich durch einen öffentlichen (!) Weg getrennt! Schilder verboten das Stehenbleiben auf diesem Weg, aber dennoch konnten Benutzer des Wegs mitbekommen, was im Lager passierte - wenigstens in Teilen. Und darüber wurde auch hinter vorgehaltener Hand gesprochen, nicht nur innerhalb der eigenen Familie. Und so, wie sich das Corona-Virus heute verbreitet, verbreiteten sich sicher auch die Nachrichten aus den Gegenden, in denen die Lager waren ...

    Geahnt haben fast alle, was hier los war, nur wahr haben wollten es viele nicht ... und nach 1945 setzte dann eine Art kollektiver Gedächntnisverlust ein!

    Mit derart derart einfachen Erklärungen und Rechtfertigungsversuchen kommst Du sicher nicht weiter.

    Gruß, Stefan

    "Es gibt nichts, was ein deutscher Offizier nicht kann!" (Oberst Manfred v. Holstein)

  • Hallo pittt

    Du stellst hier eine ziemlich steile These auf!

    Meine Großmutter kam aus einem Ort mit dem höchsten Anteil jüdischer Einwohner in Hessen!

    Du glaubst doch nicht ernsthaft, daß sich Nachbarn keine Gedanken gemacht haben wenn Leute, die genaue so arm waren wie sie selbst, ihren Hausrat zurück gelassen haben!

    An den Massenmorden in Russland haben soviele Soldaten teilgenommen, daß kann nicht geheim geblieben sein!

    Männer Frauen und Kinder mussten sich komplett ausziehen und sind am Rand von Gruben erschossen worden!

    Diese Gruben haben sie zum Teil selbst gegraben!

    Glaubst du ernsthaft daß alle das als Partisanenkampf weiter erzählt werden!

    Neue Bremm in Saarbrücken ist ein interessantes Thema sich damit zu beschäftigen lohnt sich für dich.

    Es hat nicht jeder alles gewusst, allerdings wird es ganz wenige gegebenen habe die nichts gewusst haben!

    Ich nehme mal den Senner, der daß ganze Jahr auf seiner Alm war raus!

    Meine andere Großmutter kannte jemand der im KZ war.

    Auf ihre Frage wie es war, fragte er zurück ob sie schweigen könne, auf ihr ja antwortet er ich auch!

    Zum Thema ich habe nichts gewusst

    Ein Bibelzitat von einem Denkmal in Nürnberg für die Opfer jüdischen Glaubens

    Altes Testament Sprüche 24 Vers 12

    Sprichst du: »Siehe, wir haben's nicht gewusst!«, fürwahr, der die Herzen prüft, merkt es, und der auf deine Seele achthat, weiß es und vergilt dem Menschen nach seinem Tun

    Ich hoffe das lässt dich ein bisschen nachdenken und die Aussagen über diese Zeit etwas anders zu interpretieren!

    Gruß Arnd

  • Hi stefan_reuter

    Zuerst geht es mir nicht um Rechtfertigungen. Erklärungen sicherlich, aber ich werde und will hier nichts rechtfertigen..

    Ich habe auch nie behauptet, dass die Menschen damals doof waren.

    Ich werde daher etwas deutlicher: Man wird von Beobachtungen, die du auch ja in deinem Beispiel erwähn hast, von der Pogromnacht usw , geschlussfolgert haben, dass Juden menschenunwürdig behandelt wurden. dass sie grundlos erschossen wurden, dass sie in den KZ arbeiten mussten bis sie umfielen usw..

    Was ich so hörte, war , dass man landläufig glaubte, dass man die Juden zur Zwangsarbeit missbrauchte. Bis zum Holocaust ist es noch ein weiter Schritt.

    Ob Zeugen von Vergasungen aus einem KZ entlassen wurden, weiß ich nicht. Aber wie du schon sagtest, war man da wohl um Geheimhaltung bemüht.

    Ich denke, man macht es sich heute recht einfach zu sagen, alle/ haben es gewusst oder hätten darauf messerscharf schließen können. Das habe ich versucht zu untermauern. Es sind keine einfachen Erklärungen, es sind schlüssige und nachvollziehbare Erklärungen unter Berücksichtigung der damaligen Umstände. Und sie ergeben für mich Sinn. Man reiste damals mitten im Krieg nicht durchs Land und machte eine Tourismus-Tour zum nächsten KZ., Man war auch bei Erzählungen vorsichtig wegen Denunzianten, abgehörten Telefonaten ( sofern man Telefon hatte), Zensur von Briefen usw. das meinte ich mit eingeschränkten Informationslauffeuer.

    Die Alternative wäre: Altkanzler Schmidt und Alt- Bundespräsident von Weizäcker ( und natürlich meine Verwandten) haben gelogen, dass sich die Balken biegen.

  • Moin,


    vielen Dank für die angeregte Diskussion.


    Ich würde - bevor das hier entgleitet - vielleicht einmal die Diskussion in eine andere Richtung lenken wollen:

    Wie haben die Deutschen nach dem Krieg reagiert, nachdem Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald, Ravensbrück und wo überall die schrecklichen Orte lagen, bekannt wurde?


    Meine mittlerweile ins uferlose abgleitenden Recherchen zeigen beim Umgang mit dem Thema KZ nach dem Krieg ein sehr bedenkliches Bild.

    Was die Deutschen während der NS-Zeit gewusst haben, ist - abgesehen davon - dass man diese Frage nur wirklich unpräzise beantworten kann, im Grunde unerheblich: es konnte geschehen! Das zählt.

    Der Umgang mit dem Unvorstellbaren fordert uns bis heute.


    Bleibt friedlich.

    Viele Grüße,

    Justus

  • Guten Abend pittt!

    Worauf fußt denn diese Aussage beziehungsweise Zahlenangabe?

    Viele Grüße!

    Frank/Evergreen

    Hi Evergreen,

    Es sind reine Schätzungen. Ich nehme die Anzahl der Leute in den Einsatzgruppen, der Polizeibataillone und KZ-Wärter, Lokführer und allen, die so an der Mordmaschinerie beteiligt waren plus zufälligen Zeugen wie z.B Frontsoldaten als Grundlage der Schätzungen. Ich schätze weiter, dass jeder von denen das weitererzählt hat und es sich dann in einem gewissen Umfang verbreitet hat.

    Nur gehe ich nicht von einem Lauffeuer der Informationen aus.

    Ich bin dahingehend auch nicht wissenschaftlich fundierter, schlechter oder besser als Schätzungen wie " es wussten fast alle". Denn verlässliche Quellen hierzu gibt es eben nicht, egal wer ein Buch schreibt oder Arbeiten hierzu herausgibt.

  • Hallo pittt,


    Stefan hat bereits eine Quelle genannt und die wichtigsten Forschungsergebnisse mitgeteilt.

    Das KL System war kein Geheimnis, es wurde von den Nazis offen als Terrorinstrument der Bevölkerung vorgeführt. Jeder wußte das die KL ein rechtsfreier Ort war, wo totale Willkür herrschte. Die Drohung mit “Dachau” wurde von jedem verstanden.


    Die Vernichtungspolitik gegen die Juden, aber auch anderer Minderheiten nach 1939 und besonders nach 1941 war, wenn auch nicht unbedingt im Detail, den meisten Zeitgenossen bekannt.

    Mein Vater erzählte als Zeitzeuge, als er Anfang September 1941 vor Leningrad verwundet wurde, waren Judenerschießungen in der Truppe allgemeiner Gesprächsstoff.

    Eine Freundin meiner Eltern, geboren 1923 in Łódź und dort beheimatet bis 1947 wußte um das Getto und die Morde in Chelmno.
    Schwiegervater geboren 1928 in Luzk, Wolhynien, damals Polen, wurde Anfang 1940 mit seinen Eltern als Volksdeutscher in den Warthegau umgesiedelt. Er hatte weiter Briefkontakt mit alten Freunden in Luzk und er erfuhr dadurch, dass in 1941 und 1942 mehr als 20.000 jüdische Einwohner in der Nähe der Stadt ermordet wurden.

    Dies einige wenige Beispiele und wenn Du unter den richtigen Stichworten bei Tante Google suchst wirst vieles zu dem Thema erfahren und auch noch Hinweise auf weiterführende Literatur.


    Und täusche Dich nicht, die Leute waren damals auch ohne Internet gut informiert, es gab halt andere Wege.


    Beste Grüße


    Paul


    G-W-G'

  • Hallo pittt

    Ich unterstelle niemand daß er gelogen hat daß sich die Balken gebogen haben!

    Allerdings die Wahrheit biegen und schönreden unterstelle ich vielen.

    Etwas verschweigen ist nicht lügen.

    Eine zuverlässige Aussage wer wie viel gewusst hat wird keiner erreichen!

    Es gab allerdings keine Frontsoldaten die " zufällig " dazu gekommen sind!

    Soldaten wurden kommandiert wo es hin ging, das ist heute so und war damals nicht anders!

    Den Umfang von Flüsterpropaganda solltest du nicht unterschätzen!

    Der Ansatz wer wie viel gewusst hat ist doch ehr zweitrangig.

    Viel wichtiger ist es doch Daten und Fakten zu sammeln um darüber verlässlich über dieses unsagbare Verbrechen zu informieren!

    Den die es leugnen oder verharmlosen zu wiedersprechen ist wichtig!

    Es darf nie wieder passieren!

    Gruß Arnd

  • Hallo Justus,

    ich hoffe doch sehr, dass hier nichts entgleitet und man mich richtig versteht. Mir persönlich ist es egal, ob mein Großvater ein Kriegsverbrecher gewesen wäre ( Betonung liegt auf dem Konjunktiv, denn er war es offensichtlich nicht) oder ob alle Deutschen kollektiv schuldig wären, weil fast jeder es gewusst hatte/ haben müsste! Ich halte nichts von einer Erbschuld und würde mir auch kein Büßergewand anziehen, selbst wenn es fast alle gewusst hätten.

    Wichtig ist, dass wir alle gemeinsam dafür sorgen, dass es sowas wie den Holocaust nicht mehr geben kann.

    Es geht mir um eine möglichst korrekte Wiedergabe der historischen Begebenheiten, nicht um Geschichtsrevisionismus.

    Die Reaktion der Deutschen war nach meinem Kenntnisstand geprägt von Grauen, gefolgt vom Wunsch, das alle hinter sich zu lassen. Es folgte eine Verdrängung, Man wollte eigentlich nicht mehr über den Holocaust sprechen.

  • Hi, Arnd, hi Paul,

    Wir sind uns einig, es darf nie wieder passieren und es soll nicht geleugnet oder verharmlost werden. Dem muss sofort entschieden mit Fakten entgegen getreten werden.

    Ich sehe "schönreden oder verschweigen" nicht so tolerant. Für mich ist das Lügen! Ich hätte auch kein Problem damit, Verwandte oder Prominente als Lügner zu bezeichnen. Geht zwar kaum noch, weil die Masse schon verstorben ist, aber egal.

    Nur nehme ich einem Schmidt oder von Weizäcker, beide ebenfalls vor Leningrad gelegen, tatsächlich ab, nichts von dem Ausmaß des Holocaust in den KZ gewusst zu haben.

    Es ist auch nicht richtig, dass es keine zufälligen Zeugen gab. Das Hinterland der Front war nicht leer.Die Abschirmungen der SS und/oder Wehrmacht funktionierten nicht immer. Teilweise wurde auch an der Ostfront zu Erschießungen "geladen" ( "SS lädt zu Juden-Erschießung ein"). Und wenn ich das bei den google-Recherchen zum dem Thema richtig in Erinnerung habe, ist Strauß als Artillerist zufällig Zeuge von Erschießungen gewesen.

  • N'Abend pittt,

    natürlich hatten nicht "fast alle" Deutschen einen Überblick über das Ausmaß des damaligen Massenmords. Aber muss man sich wirklich erst über das Ausmaß im Klaren sein, um die Sache bereits im Kern anzuzweifeln? Der oft bemühte "gesunde Menschenverstand" sollte dem Einzelnen eigentlich eine Art Richtschnur bieten für das, was als richtig und was falsch einzuordnen ist! Hier setzt im Übrigen auch unser Rechtssystem mit dem Begriff der "guten Sitten" an. Bereits 1901 definierte das Reichsgericht diesen Begriff als "das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden". Dieses Anstandsgefühl ist dann offenbar ab 1933 weitgehend abhanden gekommen ...

    Ich glaube den Zeitzeugen sogar, dass sie nichts oder zumindest nicht viel von all dem (ich rede nicht vom Ausmaß) gewusst haben, unterstelle aber, dass man trotz eventuell vorhandener Zweifel hier auch nichts Genaueres wissen wollte!

    Zu Justus' Frage, wie die Deutschen nach 1945 reagiert haben, nachdem ihnen das Ausmaß bekannt wurde. Diejenigen, die zwischen 1933 und 1945 gewissermaßen "systemrelevant" waren, haben ihre jeweiligen Tatbeiträge geleugnet und heruntergespielt und sind zu einem nicht unerheblichen Teil leider davon gekommen. Und diejenigen, die nach 1945 mitbekommen hatten, dass auch sie durch Nichtwissenwollen zumindest indirekt am Holocaust beteiligt waren, haben sich in selbstbetrügerischer Weise selbst freigesprochen, denn sie hätten ja ohnehin nichts dagegen tun können.

    Wenn ich mir alleine die Buchtitel ansehe, die so manche ehem. deutsche Kriegsteilnehmer ihren Memoiren geben, fühle ich mich Max Liebermann sehr verbunden. Ein Paradebeispiel hierfür ist das Buch mit dem unsäglichen Titel: "Ich habe meine Pflicht erfüllt"! (zu dem Machwerk verlinke ich hier jetzt nicht). Ich bin der Meinung, dass Deutschland und dem Rest der Welt Vieles erspart geblieben wäre, wenn weniger Leute damals ihre vermeintliche Pflicht getan hätten ...

    Aber auch in weniger verfänglich betitelten Veröffentlichungen sucht man i. d. R. vergebens auch nur einen Satz, in dem es heißt, dass man - aus welchen Gründen auch immer - ebenfalls Teil dieses massenmordenden Systems war, wenn auch nicht unbedingt freiwillig und nur aufgrund irreführender Versprechen.

    Ich mache niemandem aus dieser Generation einen Vorwurf daraus, dass er/sie damals von den Ereignissen mehr oder weniger überrollt und mitgerissen wurde (ich weiß ja auch nicht, wie ich damals reagiert hätte), aber spätestens seit Kriegsende kann man seine Meinung hierzu kundtun, ohne dafür in ein Lager zu kommen, aber diese Chance wurde und wird leider viel zu selten genutzt. Das bezeichne ist als "beredtes Schweigen" ...

    Interessant hierzu ist übrigens das Interview mit Hitlers letzter Sekretärin, Traudl Junge ("Im toten Winkel - Hitlers Sekretärin", 2002 -> KLICK). Junge gibt zu, dass sie, nachdem sie erfahren hatte, dass Sophie Scholl nur ein Jahr jünger war als sie selbst, ebenfalls "hätte wissen können" ...

    Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen, denke ich.

    Gruß, Stefan

    "Es gibt nichts, was ein deutscher Offizier nicht kann!" (Oberst Manfred v. Holstein)

  • Hallo pittt,


    ok, sind wir uns also einig, aber nun verrate mir bitte, was Du mit Deinen Beiträgen mitteilen willst, denn bisher war es Eulen nach Athen tragen, es gibt aber auch einen modernen Ausdruck dafür. Sagt Dir Troll etwas?

    Gruß


    Paul


    G-W-G'

  • Paul,

    meine Beiträge sind eigentlich recht eindeutig und ich habe den Grund dafür erläutert. Ich will das nicht alle wiederholen. Kurz gesagt: ich sehe einen qualitativen Unterschied zwischen " fast alle haben es gewusst" und es haben nur " die Prozentzahl X gewusst". Für den Holocaust selbst ist das gleichgültig, völlig richtig. Es ändert nichts an der Tatsache des Holocaust.

    Für die moralische Beurteilung der Menschen damals besteht jedoch meiner Meinung nach da ein großer Unterschied. Für dich nicht??

    Ich sehe Leute, die etwas gewusst haben zumindest etwas anders als jemanden, der nichts gewusst hat.

    Weiterhin möchte ich dann doch den Begriff "Troll" von Dir erläutert haben.

    Zu Stefan:

    ich denke, wir müssen hier unterscheiden zwischen den Schönrednern und denen, die tatsächlich der Nazi-Propaganda glaubten, Deutschland werde von allen angegriffen und müsse sich verteidigen. Und letzteres war gerade bei der jungen Generation weit verbreitet.

    Mein Vater!!! ( joa, hat im Alter wohl nochmal zugeschlagen :) ) war als gerade Volljähriger bei der Waffen-SS und hockte in einem "Panzer." Was ich so hörte, war, dass er zur Waffen SS ging, weil er diese als "Elite" sah und den Krieg als Abenteuer betrachtete. Sein älterer Bruder war Fallschirmjäger und ist in Afrika gefallen. Mein Vater und seine Kameraden waren der Meinung, ihr Land zu verteidigen. Die Vaterlandsverteidigung sah man als Pflicht an und wollte diese auch unbedingt erfüllen.

    Man sah sich nicht als Teil eines verbrecherischen Systems, das unschuldige Menschen millionenfach vergast. Er sagte, er habe an auch an Erschießungen von Partisanen teilgenommen. Ob es sich dabei tatsächlich um Partisanen handelte oder ob es Sühnemaßnahmen gegen einfache Dorfbewohner waren, weiß ich nicht. Was er oder der Rest der Familie von den KZ wusste, weiß ich leider auch nicht. Ich hörte nur heraus, dass man in der Heimat ( Luftangriffe) und an der Front andere Sorgen ( Kampfhandlungen) hatte.

    Ich habe auch keine Ahnung, wie weit und ob er vom Geist der Waffen SS durchdrungen war. Er war nach dem Krieg Bergmann und eifriger SPD-Wähler. Ich war damals auch zu jung und zu desinteressiert, um näher nachzufragen. Leider, denn heute würde mich das schon brennend interessieren.

  • Man reiste damals mitten im Krieg nicht durchs Land und machte eine Tourismus-Tour zum nächsten KZ., Man war auch bei Erzählungen vorsichtig wegen Denunzianten, abgehörten Telefonaten (sofern man Telefon hatte), Zensur von Briefen usw. das meinte ich mit eingeschränkten Informationslauffeuer.

    Guten Abend pittt!

    Woher rührte denn die Vorsicht Deiner Ansicht nach? Die Angst, verraten zu werden - das Falsche zu sagen? Kam sie möglicherweise daher, dass die große, schweigende Mehrheit am Ende doch sehr genau wusste, wohin die Denunziation geführt hätte? Nämlich ins KZ!

    Und sei mir nicht böse: Aber auch Dein Argument vom ,eingeschränkten Informationslauffeuer' greift zu kurz. Das Regime bestand immerhin doch zwölf Jahre lang, die Nazis hatten genug Zeit, ihre Schreckensherrschaft allumfassend zu etablieren. Wir reden hier nicht von einem kurzen Lauffeuer, sondern von einer Zeitspanne, in der auch der letzte - trotz eingeschränkter Kommunikationsmittel - mit den Realitäten konfrontiert wurde. So er sie - und das ist für mich der entscheidende Punkt - denn sehen wollte. Und letztlich baute der totalitäre Staat ja auch genau darauf: Die Masse gefügig zu machen, einzuschüchtern und aus dieser Angst heraus nach Belieben schalten und walten zu können.

    So viel auch zu Deinen Schätzungen, bis zu welchem Punkt sich das Wissen über die Gräuel dieses Staates weiterverbreitet hat. Als ob sich - ganz abgesehen davon - mathematisch berechnen und den Funktionen bestimmter Personenkreise zuordnen ließe, ab welchem Bürger Schluss gewesen sein könnte mit tiefergehenden Einblicken in dieses Vernichtungssystem.

    Die Alternative wäre: Altkanzler Schmidt und Alt- Bundespräsident von Weizäcker (und natürlich meine Verwandten) haben gelogen, dass sich die Balken biegen.

    Ich weiß nicht, warum Du genau diese beiden Politiker nennst. Aber auch sie hatten Facetten im Umgang mit ihrer Vergangenheit und ihrer Familiengeschichte, die es zu beleuchten gilt, wenn du einen Gesamteindruck ihres Handelns gewinnen möchtest. Gerade wenn es um die NS-Zeit geht. Ich stelle die beiden Links nur deshalb ein - um dafür zu plädieren, genauer hinzuschauen. Und nicht, um diese verdienten Politiker zu demontieren oder zu diskreditieren.

    Interessant finde ich jedenfalls, was Helmut Schmidts Biographin hier sagt:

    Artikel Altkanzler Schmidt

    Und in diesem Text wird in einer Passage der Umgang Richard von Weizsäckers mit der Rolle seines Vaters thematisiert:

    Artikel Richard von Weizsäcker

    Und da Du die Verwandten ebenfalls ansprichst: Auch mein Großvater hat angeblich von nichts gewusst. Er war mir Zeit seines Lebens unfassbar wichtig und ich habe ihn nie verurteilt - auch und gerade, weil ich nie so anmaßend sein wollte, zu behaupten, ich hätte mich in seiner Jugend und in seinem frühen Erwachsenenalter so oder so verhalten. Aber: Geglaubt habe ich ihm das nicht. Weil sie ihm den Judenhass von Kindheitstagen an eingeimpft hatten und er, auch wenn er jedem Krieg abgeschworen hatte, auch im Alter noch Thesen von den Weltfinanzen, die fest in jüdischer Hand seien, vertreten hat.

    Ich würde - bevor das hier entgleitet - vielleicht einmal die Diskussion in eine andere Richtung lenken wollen:.Wie haben die Deutschen nach dem Krieg reagiert, nachdem Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald, Ravensbrück und wo überall die schrecklichen Orte lagen, bekannt wurde?

    Justus hat Recht - auch wenn das ,Danach' für mich trotzdem direkt ans ,Davor' geknüpft ist. Ich bin bei diesen Überlegungen auf einen außerordentlich guten Vortrag von Wolfgang Benz gestoßen, den er 2019 bei einem Symposium in Rostock gehalten hat. Der Text ist auf der Seite der Bundeszenrale für politische Bildung nachzulesen. Er ist lang, aber er ist es wert.

    Darin heißt es unter anderem:

    ,Gegenüber den emotionalen und psychologischen Abwehrmechanismen, die gegen die Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit aufgebaut wurden und die je länger desto reibungsloser funktionieren, sind Forschungsergebnisse wirkungslos, ganz gleich ob es sich um die Zahl der in Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordeten Opfer des Regimes, um die Schuld am Zweiten Weltkrieg, um die Ruinierung von Wirtschaft und Finanzen des Deutschen Reiches, über Ursachen und Folgen der NS-Herrschaft handelt. Denn das menschliche Bewusstsein ist so beschaffen, dass Unerwünschtes und Unerfreuliches von der Realität abgespalten werden kann, nicht wahrgenommen wird, und der Umgang mit der nationalsozialistischen Zeit - Erinnerung der Mitlebenden ebenso wie Reflexion der Nachgeborenen - bietet eine Fülle von Anschauungsmaterial dazu.'

    Der gesamte Beitrag von Benz - in meinen Augen klammert er die Diskussion unglaublich gut - ist hier nachzulesen:

    Vortrag Wolfgang Benz

    Viele Grüße!

    Frank/Evergreen

  • Hi, Arnd, hi Paul,

    Wir sind uns einig, es darf nie wieder passieren und es soll nicht geleugnet oder verharmlost werden. Dem muss sofort entschieden mit Fakten entgegen getreten werden.

    Hallo pittt

    Schön dass wir uns da einig sind!

    Ich sehe "schönreden oder verschweigen" nicht so tolerant. Für mich ist das Lügen! Ich hätte auch kein Problem damit, Verwandte oder Prominente als Lügner zu bezeichnen. Geht zwar kaum noch, weil die Masse schon verstorben ist, aber egal.

    Das ist deine persönliche Bewertung, jeder sieht das anders!

    Du sprachst von Frontsoldaten, die waren bis auf wenige vorne!

    Das wüten der Einsatzgruppen, Sicherungsdivisionen, Hilfstruppen von andere Völkern, Polizeieiheiten, Geheimer Feldpolizei, und .....

    Ist etwas anderes, da gab es bestimmt zufällige Zeugen, die wussten allerdings bescheid was los war!

    Gruß Arnd

  • Tag allerseits,

    letztmalig noch ein Hinweis, ob die Deutschen wussten, wie man die Juden schikanierte und umbrachte.

    Dazu ein Dokument aus den letzten Kriegstagen:

    II/Wehrmachtspropagandastelle
    Bericht für 23.3.-29.3.1945 über den „Sondereinsatz Berlin“

    Berlin, 31.3.1945 - Berghahn, S. 113, 117, 119


    Einzelbeobachtungen
    Äußerungen zur Lage


    [...] Am 19.3. unterhalten sich zwei Arbeiter in Spandau-West, Moltkestr. Sie
    sind sich darüber einig, daß wir selbst Schuld an diesem Kriege trügen, weil wir
    die Juden so schlecht behandelt hätten. Wir brauchten uns nicht zu wundern, wenn
    diese es jetzt mit uns genauso machen. – Ähnliche Bemerkungen werden jetzt oft
    gehört.
    Im öffentlichen LS-Raum Bhf. Gesundbrunnen erzählte ein Arbeiter, daß in Aachen und Köln den führenden Parteigenossen die Köpfe kahlgeschoren wurden
    und sie so in öffentlichem Umzug durch die Straßen geführt worden seien. Dies sei
    von den Juden inszeniert worden, die sich auf diese Weise rächen wollten, daß man
    sie in Deutschland mit dem Judenstern gekennzeichnet habe.

    -----------

    Die Behauptung, manche Deutsche wussten nichts davon i.S. Judenverfolgung, das ist eine dümmliche Mär. Je länger der Krieg dauerte, umso mehr unterhielten sich die Menschen über die Verbrechen

    des NS-Staates. Sogar in den Luftschutzkellern gab es solche Gespräche. In den letzten Kriegsmonaten schwand auch die Angst der Deutschen vor dem Terror des NS-Staates. Auch das Hören von

    Feindsendern war anfangs 1945 an der Tagesordnung, das erlebte ich ganz bewusst als kleiner Junge. Und wer von der Gräueltaten des NS-Staates anfangs 1945 noch wenig wusste, der erfuhr es über

    den deutschsprachigen Sender BBC-London in allen Einzelheiten.

    Grüße

    Bert


    NS: Große Diskussionen zur Vergangenheitsbewältigung der Deutschen nach 1945 können wir uns fast ersparen, denn dazu gibt es einen ausgezeichneten Artikel, der die gesamte Problematik

    erläutert.

    Dazu

    https://www.planet-wissen.de/geschichte/deu…ltigung100.html

    Edited 4 times, last by Jahrgang39 (November 1, 2020 at 11:12 AM).

  • Lieber Bert,

    Quote

    Diskussionen zur Vergangenheitsbewältigung der Deutschen nach 1945 können wir uns fast ersparen,


    nein, das können wir nicht. Wir sind mit der Aufarbeitung noch längst nicht fertig.


    Viele Grüße,

    Justus

  • Hallo Arnd,

    Quote

    Du sprachst von Frontsoldaten, die waren bis auf wenige vorne!

    Das wüten der Einsatzgruppen, Sicherungsdivisionen, Hilfstruppen von andere Völkern, Polizeieiheiten, Geheimer Feldpolizei, und .....

    Ist etwas anderes, da gab es bestimmt zufällige Zeugen, die wussten allerdings bescheid was los war!

    Die Frontsoldaten wurden immer wieder zur Auffrischung von der Front zurückgezogen.

    Ein Infanterist eines Freiburger Regiments musste mit seinen Kameraden Polen umstellen, die Juden in ein brennendes Haus trieben.

    Zeit seines Lebens hat er die Schreie einer Frau mit einem kleinen Kind nicht vergessen können, die von Polen in die Flammen geprügelt wurde.

    Er fragte den Kommandeur: "Warum müssen wir die Polacken sichern ?" Antwort: "Befehl ist Befehl".

    Bis heute gibt es nicht nur Deutsche, Polen, Franzosen, sondern auch Schweizer mit Judenhass.

    Ein Schweizer Akademiker fragte mich :" Weisst Du, warum die Juden Wilhelm Tell nicht leiden können ? "

    Antwort in Schweizerdeutsch " Weil Wilhelm Tell dem Kahn (schweizerdeutsch für 'Cohn', häufiger Name bei Juden) einen Kink (schweizerdeutsch für 'Fusstritt) gegeben hat."

    Könnte noch mehr erzählen, auch von dem befreundeten jüdischen Kollegen, der mir anvertraute, dass die Schweizer Kollegen nie mit ihm ein privates Wort wechselten.

    Hallo Bert,

    Quote

    In den letzten Kriegsmonaten schwand auch die Angst der Deutschen vor dem Terror des NS-Staates. Auch das Hören von

    Feindsendern war anfangs 1945 an der Tagesordnung, das erlebte ich ganz bewusst als kleiner Junge

    Überall hingen in den letzten Kriegsmonaten Plakate : "Vorsicht, Feind hört mit".

    Das dumpfe Tonsignal von BBC hörten wir Kinder auf der Strasse mit unserm feinen Gehör immer wieder, ohne uns was dabei zu denken.

    Meine Eltern sprachen vom "Deutschen Blick", d.h. vorsichtig bei vertraulichen Gesprächen um sich schauen.

    Ein paar Jahre später wurde ich von FDJ und SED- Bonzen in sowjetischen Besatzungsbereich.gefragt :

    "Was hast Du eben gesagt ? Kannst Du das nochmal vor dem Kollektiv wiederholen ?"

    Habe ich gemacht.

    Ergebnis: Ich flog von allen Oberschulen der DDR.

    Gruss jostdieter


    .