Ein sensibles Thema?

  • Liebes Forum

    an anderer Stelle habe ich ja das Kriegstagebuch meines Vaters vorgestellt, das gerade erschienen ist. Bei der Arbeit daran habe ich mir natürlich viele Gedanken gemacht und eine Frage, die auftauchte, war, warum niemals das Wort Jude vorgekommen ist in dem Tagebuch. Ich hatte sogar einen Zeitzeugen befragt, weil ich ja meinen Vater nicht mehr fragen konnte, und der gab mir zur Antwort: Wir wussten davon, aber wir haben uns geschämt.

    Nachdem das Tagebuch vollständig abgearbeitet war fiel mir das dazu gehörige Fotoalbum in die Hände. Zu den eingeklebten Bildern gab es auch Beschriftungen. Dort fand ich dieses Foto:wien_stalino_2.jpg

    Die Bildunterschrift lautet: In Lemberg

    Für mich war hier eine Geschäftsstraße dargestellt, wo es vielleicht gerade etwas schönes zu kaufen gab und die Leute Schlange standen. Sie sind ja leicht angezogen, sehen entspannt aus und haben höchstens eine Handtasche dabei.

    Dann erst stellte ich fest, dass alle Fotos auch eine Beschriftung auf der Rückseite haben. Und dort stand: Judenkolonne in Przemsyl.

    Das hat mich ziemlich überrascht. Nicht nur ist zum ersten und einzigen Mal das Wort Jude aufgetaucht, aber es stand auf der Rückseite und im Widerspruch zu der Bildunterschrift. Ansonsten war mein Vater bei den Beschriftungen sehr korrekt.

    Das wundert mich. Kann es sein, dass es verboten war, das Thema zu erwähnen? Hätte er Schwierigkeiten bekommen, wenn dies vorne gestanden hätte und er deshalb eine andere Unterschrift wählte? Eure Meinung würde mich sehr interessieren.

  • Hallo Edith,

    ich kenne einige Fotos aus den privaten Sammlungen, wo die deutschen Soldaten Juden fotografiert hatten und diese mit entsprechenden Unterschriften versehen hatten. Ob die Unterschriften zeitnah, oder erst nach dem Krieg hinzugefügt wurden, ist nicht zu erkennen.

    Ich glaube nicht, dass es ein Tabu-Thema war, zumindest nicht solange es keine Verfolgungsszenen oder Massenerschießungen betraf.

    Gruß Viktor

  • Tag allerseits,

    Viktor hat wohl Recht! Dass damals Juden aus ihren Wohnungen geholt wurden und in "Lagern" kamen, das wussten die Deutschen in der Heimat und die Soldaten an der Front. Geheimnistuereien waren

    bei vielen damaligen "Volksgenossen" unüblich. Man sah auch in den deutschen Städten während des Krieges immer wieder durchmarschierende "KZler", die zu ihren Arbeitsplätzen (meist Rüstungsbetriebe)

    geführt wurden. Selbst Kinder der damaligen Zeit kannten das Wort "KZ".....

    Nach dem Krieg soll es aber ehemalige "Volksgenossen" gegeben haben, die von der Judenverfolgung und den Konzentrationslagern keine "Ahnung" hatten.

    Grüße

    Bert

  • Hallo Edith,

    was mir auffällt, ist das es auch noch, wenn du auf deinem eingestellten Bild draufgehst noch ein Ort angezeigt wird : Wien - Stalino ?

    Es kann schon sein, dass Fotos gemacht wurden und dann erst später einsortiert und unterschreiben wurden.

    Dabei können auch Fehler aufgetreten sein!

    Ist denn eine Zeitangabe schlüssig vorhanden?

    bis dann gruss Det

    Zum ´Sudeteneinmarsch 1938` - siehe auch unter "Bücher, die von Mitglieder geschrieben wurden"

  • Hallo Det,

    Wien-Stalino ist der Name, den ich dem Foto gegeben habe, da es auf dieser Reise entstanden ist. Und ja, ein Datum steht dabei, eben das, wo es im Tagebuch angefügt ist. Also 24.7.1942.

    Natürlich können immer Fehler auftreten, aber ich glaube es nicht, da sonst alles sehr genau war.

  • Tag allerseits,

    nochmals dazu, ob das Thema Juden ein "sensibles Thema" war. Der Staat selbst sorgte dafür, dass dieses Thema nicht sensibel blieb. Die Kriegsberichterstatter, die jede Menge Bildmaterial von den Kriegsschauplätzen lieferten, bildeten auf ihren Fotos auch immer wieder Juden ab und dazu gab es dann auch die "entsprechenden" Bildunterschriften. Das war offensichtlich vom NS-Staat durchaus gewollt.

    Man wollte das Volk immer mehr dazu bringen, für Juden Animositäten zu empfinden. Und man wusste auch, dass die Juden "abgeholt" wurden. Fast bis Kriegsende waren vom Staat beauftragte

    Auktionäre in den größeren deutschen Städten damit befasst, das Vermögen von Juden zu versteigern. Mancher biedere Handwerker ersteigerte sich damals durchaus günstig ein Arbeitszimmer, das einmal

    einer deutsch-jüdischen Familie in Deutschland gehörte. Viele Volksgenossen ersteigerten damals alle möglichen Dinge aus jüdischem Besitz: Bettwäsche, Kleider, Geschirr, Einrichtungsgegenstände usw.

    Und gerade "solche Herrschaften" erfuhren erst nach Kriegsende, was mit den deutschen Juden passierte.......

    Grüße

    Bert

  • Hallo Det,

    Wien-Stalino ist der Name, den ich dem Foto gegeben habe, da es auf dieser Reise entstanden ist. Und ja, ein Datum steht dabei, eben das, wo es im Tagebuch angefügt ist. Also 24.7.1942.

    Natürlich können immer Fehler auftreten, aber ich glaube es nicht, da sonst alles sehr genau war.

    Hallo Edith,

    auf einer Reise entstanden. Das erklärt es dann mit dem Bildnamen.

    Aber warum 2 unterschiedliche Orte zweier verschiedener Länder damals - Ukraine - Polen?

    Der Vater ist durch Lemberg und dann durch Przemsyl gereist und wo wurde das Foto nun geschossen?

    Im Juli 1942 und die Beschriftung mit "Jude" - ist, glaube ich, kein Problem gewesen!

    bis dann gruss Det

    Zum ´Sudeteneinmarsch 1938` - siehe auch unter "Bücher, die von Mitglieder geschrieben wurden"

  • Guten Tag zusammen,

    die Threadüberschrift sagt eigentlich schon alles über die Bedenken, über die Gedanken Ediths aus,

    diesen Thread überhaupt zu eröffnen.

    Ist es ein sensibles Thema?

    Ja, natürlich, Juden im Dritten Reich, Holocaust, was könnte uns mehr vor Augen führen, was damals Unvorstellbares verbrochen wurde?

    Deshalb sein lassen?

    Nie im Leben,

    ich begrüße jeden Thread, der diese Thematik aufgreift,

    dummerweise wissen wir auch, dass gerade solche Threads sehr schnell dem Untegang geweiht sind.

    Warum?

    Weil immer wieder Leute meinen abweichen zu können, meinen,

    das eigentliche Thema verlassen zu müssen um Weisheiten von sich geben, die dann mit dem Thema nichts mehr zu tun haben.

    Bert hat uns jetzt wiederholt, durch die Blume?, erklärt,

    dass jeder wusste, wie es um die Juden stand.

    Nicht unbedingt in den Anfangsjahren der NS-Zeit, aber später schon.

    All das Getuschel, das unter der Hand Gehörte, 2+2=4, das Miterlebte wie plötzlich alle jüdischen Deutschen "eingesammelt" wurden,

    bei denen man vortags noch eingekauft hat, sich seine Kleidung reparieren ließ,

    alle jüdischen Wohnung aus heitern Himmel zur Vermietung, alle jüdischen Häuser plötzlich zum Verkauf standen.

    All die Denunzianten, die wegen ihrer "verdreckten" Hirnmasse "Führer, wir folgen dir" Juden ans Messer geliefert haben,

    sich lieber ein Sternchen bei der Gestapo verdient haben, dafür Juden ins KZ geschickt haben.

    Boah, ich könnte mich in Rage schreiben,

    und wie es dann später üblich war, nach dem Krieg, als Aufarbeitung anstand, niemand wollte etwas gewusst haben.

    Alles nur gute Deutsche, es waren die anderen...

    Zum Kotzen....

    Grüße Thomas

  • Hallo Thomas und alle anderen!

    Wie gut verstehe ich Thomas' Wut angesichts dieser furchtbaren Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung, aber auch an behinderten Kindern und Erwachsenen; die Empörung darüber, dass diese Verbrechen nach dem Kriege oft totgeschwiegen und schon gar nicht gesühnt wurden. Seit ich denken kann, habe ich unter den Bildern gelitten, mich oft sogar geschämt, Deutsche zu sein.

    Die Frage an meinen Vater und meine Mutter "Habt ihr von der Judenverfolgung gewusst?", diese Frage, die ja schon an sich impliziert, dass sie es gewusst haben könnten, hat alle weiteren Fragen bezüglich Nazizeit und Krieg verhindert.

    Von den Zeiten meiner Eltern im Kriege (Vater an so gut wie allen Fronten; Mutter mit Kind alleine in einer fremden Stadt, dann Flucht) wollte ich nie etwas wissen, weil der Holocaust - begangen von Deutschen - für mich das furchtbarste und niederträchtigste Verbrechen der Menschheit war und ist und daher immer im Vordergrund stand.

    Heute bedauere ich zutiefst, meine Eltern nicht danach gefragt zu haben, was sie alles durchmachen mussten, nie habe ich nach den vermissten und gefallenen Brüdern gefragt, nicht danach, wie es war, nach der Flucht alles verloren zu haben usw...

    Das hat bestimmt nichts mit Aufrechnung oder Relativierung zu tun, auch nicht damit, wer die Schuld trägt, sondern einfach damit, dass der Blick auf das Leid der einen nicht den Blick auf das Leid der anderen verstellen darf.

    Gruß Cristiane

    "Feigheit ist die Mutter der Grausamkeit" Montaigne

    Suche Einsatzorte 3./schwere Artillerie Abt. 848 ab Juni 1943

  • Hi Edith.

    Wie schon geschrieben ich glaube nicht das es verboten war das Thema zu erwähnen.

    Was glaube ich verboten war wenn ich mich richtig auch an die Erzählungen von meinem Großvater erinnere war geschäfte mit Juden zu machen oder Beziehungen zu habe.

    Man sollte sich dabei jedenfalls nicht erwischen lassen...

    Was halt schwierig nach zu forschen ist ist wie das Thema in den verschiedenen familien behandelt wurde.

    Ich würde es gut finden wenn die Diskussion nicht all zu sehr von der Frage abweichen würde. So Themen gibt's bzw. gab's ja schon oft und endete (fast) immer im Streit.

    Grüßle Petzi

  • Hallo zusammen,

    googelt man das Datum zusammen mit Przemysl und Judenverfolgung, könnte das Bild durchaus im Zuge der Zwangsrekrutierung und kurz darauf erfolgter Deportation nach Belzec entstanden sein. Das Schuhhaus bzw. dessen Adresse befand sich nur unweit des jüdischen Ghettos im Stadtteil Garbarze.

    Ulf, wie immer ist auf Dich Verlaß, was Bilder und Verortung angeht; herzlichen Dank dafür.

    Grüße

    Diana

    Die Frau ist die einzige Beute, die ihrem Jäger auflauert (Ingelore Ebberfeld)

  • Hallo Erich,

    nein, ich war noch nicht dort, es ist eine Google Streetview-Aufnahme. Mich hat das Bild interessiert. Es sind m. E. nur "jüngere" Frauen in der Kolonne, ohne Gepäck. Ich vermute, sie sind auf dem Weg vom Ghetto zum Arbeitseinsatz in einer Fabrik o. ä. Die Errichtung des vom Ort der Aufnahme in unmittelbarer Nähe liegenden Ghettos (Nr. 9 des Anhangs), trennt zeitlich nur wenig von dem angegebenen Datum der Aufnahme (Diana ich sehe erst jetzt, dass du das auch schon geschrieben hast...).

    Gruß

    Ulf

    Getto Przemysl.jpg

    Edited 2 times, last by Ulf71 (August 13, 2019 at 12:32 PM).

  • Guten Tag Edith,

    danke für das Einstellen dieses Fotos, das Bild ist ein sehr wichtiger historischer Beleg, solch ein Foto sieht man selten, gerade in einem Internetforum.

    Danke auch an Ulf, für die weiteren Informationen, die das obige Foto ergänzen, sehr gut!

    Man könnte nun versuchen, diese Fotografie mit den modernen Methoden der Bildbearbeitung zu verbessern, um mehr Details aus dem Bild

    "herauszuholen", das wäre dann eine Entscheidung von Edith.

    Sicher ist das Thema sensibel, schwierig, aber wir müssen damit umgehen, gerade heute.

    Ob uns das gefällt, oder nicht, das sollte keine Rolle spielen.

    Wir können versuchen, all das aufzuarbeiten, in einer respektvollen Art und Weise.

    Einen nachdenklichen Gruß

    Micha

  • Hallo Edith und hallo alle zusammen,

    ich glaube, dass angesprochene Thema hat sich erledigt!

    Edith vielleicht nennst du es auch anders, wie z.B. du es beim KTB

    deines Vaters hier reingestellt hast?

    Nenne es, nur mein Vorschlag, "Fotoalbum des ErichS" - stelle dazu noch Fotos rein

    und wir können hier die anfallenden Fragen dazu beantworten!:/

    :thumbup: das es jetzt die Verortung des o.g. Fotos gibt.

    bis dann gruss Det

    Zum ´Sudeteneinmarsch 1938` - siehe auch unter "Bücher, die von Mitglieder geschrieben wurden"

  • Moin Det,

    nichts hat sich erledigt, gar nichts.

    Was du glaubst erkannt zu haben, das ist gerade einmal einmal das Foto an sich, nicht mehr.

    Ich habe kein vergleichbares Bild in meiner Sammlug, schon gar nicht auf der Rückseite beschriftet.

    Ein Zeitdokument, selten, dazu mit einer Beschriftung aus damaliger Zeit, mehr ist kaum möglich.

    Wenn dieses Foto in meinem Besitz wäre, dann würde ich es weitergeben, in ein Archiv, keine Frage.

    Gruß

    Micha

  • Guten Abend zusammen,

    Det,

    auch für mich hat sich das noch nicht erledigt,

    wobei ich das dann mal ruhiger als Michel angehe.

    Ich will darüber reden, ich will Meinungen hören...

    Die Frage ist, ob Edith solch einem Thread gewachsen ist!

    Denn um sie geht es, ihren Vater.

    Die "mangelhafte" Threadüberschrift hatte ich schon angesprochen, aber die Intention bleibt doch:

    Warum wurde nicht gesagt was man zu sagen hatte?

    Das war Ediths Frage, warum wurde so spärlich mit dem Begriff "Jude" umgegangen, warum war das so?

    Cristiane,

    Quote

    dass der Blick auf das Leid der einen nicht den Blick auf das Leid der anderen verstellen darf.

    ich weiß jetzt nicht, in wieweit du mit meiner Einstellung zum Thema vertraut bist,

    wie ich ticke, wie du mich einschätzt.

    ich kann dir versichern, dass mir all das Leid der Menschen, die Flucht und Vertreibung erlebt haben,

    auch bekannt ist, ich bin da sehr belesen, glaub mir, aber das ist hier, in diesem Thread, nicht das Thema.

    Grüße Thomas

  • Vielen Dank, Ihr Alle,

    richtig schade, dass ich nicht schon früher gefragt habe, denn eure Antworten sind sehr interessant, sie schreien gerade nach einer neuen Fußnote im Tagebuch. Was doch alles hinter so einem kleinen Foto stecken kann. Ich füge euch nun noch die Rückseite ein, da seht ihr, dass er sogar die Uhrzeit dazu geschrieben hat. 9:30 Uhr, das passt ganz gut für den Arbeitseinsatz.

    Herr Staritz hat auch schon gesagt, dass ich das Album einem Museum geben soll, z.B. dem Spionagemuseum in Berlin, wo viele seiner Stücke sind. Aber noch kann ich mich nicht davon trennen.

    wien_stalino_2a.jpg

  • Hallo Thomas und alle anderen!

    Es ging mir nicht um Deine Einstellung, Thomas, auch wollte ich keinesfalls den Eindruck erwecken, mir ginge es darum, auch auf das Leid der nichtjüdischen Bevölkerung hinzuweisen. Nur hatte ich zum Thema "Drittes Reich" keine anderen Bilder im Kopf , als die der verfolgten, geschundenen und ermordeten Juden. Diese Bilder haben in mir eine tiefe Trauer und eine große Wut auf die gesamte "Nazigeneration" ausgelöst, so dass eine Auseinandersetzung mit dieser Generation (im engsten Kreis meine Eltern) für mich nicht stattfinden konnte, weil die Verbrechen und die Schuld für mich im Vordergrund standen. Es wird immer behauptet, die Kriegsgeneration hätte ihren Kindern nichts erzählt, ich behaupte, viele wollten nichts hören, weil sie schon eine vorgefasste Meinung hatten. Somit blieb und bleibt fast alles im Dunkeln; das bedauere ich.

    An meiner Meinung hat sich nichts geändert, und ja, ich glaube an die kollektive Schuld der Deutschen. Hochachtung für all jene, die vergeben können, ich kann es nicht!

    Gruß Cristiane

    "Feigheit ist die Mutter der Grausamkeit" Montaigne

    Suche Einsatzorte 3./schwere Artillerie Abt. 848 ab Juni 1943