Hallo zusammen,
ich würde an Tacs Stelle den Tenor des Zeitungsartikels nicht überbewerten. Es handelt sich doch um einen Text
aus einer Regionalzeitung für Forchheim und Umgebung (Nordbayerische Nachrichten). Außerdem ist der Inhalt
(ohne die reichlich überspitzte Einleitung) sehr interessant und aufschlußreich.
An den im Artikel geschilderten Fällen läßt sich auch gut illustrieren, was der britische Historiker Martin Middlebrook
über die unterschiedlichen Arten der Konfrontation zwischen Deutschen und gelandeten alliierten Fliegern geschrieben hat.
Entscheidend für die Frage nach den Tätern sind ja zunächst die letzten beiden Sätze des Artikels:
QuoteAn den Lynchmorden beteiligt waren nur selten aufgebrachte Zivilisten, meist stammten die Täter aus den Reihen der Gestapo, des Sicherheitsdienstes, der SS, SA, Polizei oder Wehrmacht. Bei Zivilisten waren es fast immer fanatische Nazi-Funktionäre.
http://www.nordbayern.de/region/herzoge…icksal-1.177032
Diese Tatsache ("fast immer fanatische Nazi-Funktionäre") hatten wir ja auch schon mehrmals festgestellt. Bei der Tatbeteiligung von deutschen Zivilisten muß man also gerechterweise von einer kleinen Minderheit ausgehen.
Die Formulierung von den "entfesselten Volksgenossen" ist wohl dem davor geschilderten Fall der "aufgebrachten Menschenmenge" in Nürnberg geschuldet. Aber wieviele Menschen waren nur Schaulustige und wieviele wollten den englischen Funker tatsächlich aufhängen? Waren die Lynchwilligen nur ausgebombte Bürger ("aufgebrachte Zivilisten") oder auch NSDAP-Funktionäre in Zivil, von denen bei Mordtaten an Gefangenen schon öfter die Rede war?
Oder hatten sich aus beiden Personengruppen Fanatiker zum Lynchen eingefunden? Das bleibt völlig offen.
Hier haben schließlich die deutschen Wachsoldaten schlimmeres verhindert.
Auf jeden Fall wurde das "Paradieren" von kriegsgefangenen Fliegern durch vom Bombenkrieg getroffene Städte
manchmal absichtlich von den Wachen unternommen, wie Middlebrook schreibt. Dort kam es dann ja meist
zu den schlimmsten Angriffen und Fliegermorden. Im von Thilo genannten Fall "Rüsselsheim" war es eine
aufgebrachte Menschenmenge wie in Nürnberg, beides nach schweren Bombenangriffen.
Die Gewalttaten gingen zum einen von manchen Hinterbliebenen der Bombenopfer aus,
während örtliche "Nazi Party officials" für weitere Mißhandlungen verantwortlich zu machen sind:
Quote"There were few cases of ill-treatment and deliberate humiliation of prisoners, the first probably at the hands of civilians who had lost relations in the bombing of cities, the humiliation usually the result of action by minor local Nazi Party officials.
Prisoners captured in Germany were sometimes paraded under the gaze of local people."
(Martin Middlebrook, The Schweinfurt-Regensburg Mission. American Raids On 17 August 1943, London 1983, S. 301-302.)
Nürnberg als von den Nazis ausgerufene "Stadt der Reichsparteitage" und Wirtschaftszentrum wurde besonders oft bombardiert:
https://museen.nuernberg.de/dokuzentrum/th…ichsparteitage/
Middlebrook hat dann noch vier besonders negative Berichte zitiert, wo unangenehme Begegnungen ("encounters")
mit deutschen Zivilisten und Soldaten am 17. August 1943 geschildert werden.
Im ersten Fall raucht Staff Sergeant Elmer C. Smith nach der Landung auf einem Getreidefeld seelenruhig eine Zigarette mit einem älteren Bauern. Dieser hatte ihn zuerst erreicht aber konnte kein Englisch, Smith kein Deutsch.
Der erste benachrichtigte Offizielle aus der nächsten Stadt zog sofort ein Messer aus der Tasche und drohte Smith
auf English, daß er ihm die Kehle durchschneiden sollte ("he ought to cut my throat"). Nach Smith' Einschätzung war das aber nur Angeberei ("he was just showing off") eines höheren NS-Funktionsträgers in Zivil:
QuoteStaff Sergeant Elmer C. Smith, 351st Bomb Group:
"I fell right into a field where they were harvesting wheat. There was no chance of escape and I thought I might as well take it easy; the jig was up.
I just sat on the edge of a small track, took out a cigarette and offered it to the old chap who reached me first. He sat on one side of the track and I sat on the other, both of us smoking but not saying anything. We neither of us knew the other's language; we had tried but it had not worked.
The first man to turn up from away took out his knife and told me in English that he ought to cut my throat, but he was just showing off. I think he was some high-up from the next town."
(Martin Middlebrook, The Schweinfurt-Regensburg Mission. American Raids On 17 August 1943, London 1983, S. 299-301.)
Im zweiten geschilderten Fall geht es um deutsche Frauen bewaffnet mit langen Küchenmessern, die 2nd Lt. Ronald Delany
nach seiner Fallschirmlandung bedrohten. Bei seiner Durchsuchung stießen sie auf einen Brief seiner Mutter, den eine der Frauen übersetzen konnte. Als sie dann erfuhren, daß Delaneys Ehefrau hochschwanger war, änderte sich ihre Haltung sofort und sie reagierten verständnisvoller auf seine Situation als Kriegsgefangener (eventuell lag auch ein Foto seiner Frau im Brief):
Quote"In Germany, Second Lieutenant Ronald Delany was being threatened by women armed with long kitchen knives until someone translated a letter which had been brought out to his aircraft just before take-off.
The letter was from Delaney's mother and described how well his wife was looking in her pregnancy.
The German women immediately became more sympathetic."
(Martin Middlebrook, The Schweinfurt-Regensburg Mission. American Raids On 17 August 1943, London 1983, S. 301-302.)
Die letzten beiden Fälle, die Middlebrook in sein Buch aufgenommen hat, lassen sich unter der Überschrift
"Gewaltausbrüche nach dem Absprung" für diesen speziellen Tag (17. August 1943) zusammenfassen.
Der erste Fall wurde von einem anderen US-Kameraden beobachtet. Ein B-17 Pilot hatte nach dem Absprung
offenbar seine Dienstwaffe gezogen und versucht, sich der Gefangennahme durch eine wilde Flucht zu entziehen.
Für den Entschluß, sich niemals gefangen zu geben, war er anscheinend im Geschwader schon bekannt.
Der Kamerad sah, wie die verfolgenden deutschen Soldaten auf den Piloten schossen. Dabei soll dieser getötet worden sein:
Quote"It should be stressed that ill-treatment of Americans shot down on this day was not frequent and usually ceased when the prisoners came under any sort of military control.
There is one case of a B-17 pilot who was almost certainly shot and killed on the ground, but only after being observed by a fellow crew member running hard to escape from German soldiers. This American was definitely armed with a pistol and was known to be the type of man who would probably have preferred to shoot it out rather than surrender."
(Martin Middlebrook, The Schweinfurt-Regensburg Mission. American Raids On 17 August 1943, London 1983, S. 302.)
Im zweiten und letzten Fall handelt es sich eindeutig um einen Mordversuch durch einen deutschen Wachsoldaten.
Er schoß dem amerikanischen Gefangenen "casually" in den Bauch und ließ ihn als vermeintlich Sterbenden einfach liegen.
Der US-Soldat überlebte aber (er muß von deutschen Ärzten zeitnah operiert worden sein) und meldete vier weitere
Crew-Mitglieder als vermißt. Deren Schicksal blieb trotz umfangreicher Nachforschungen, ob sie möglicherweise ermordet wurden, ungeklärt:
"In another case an American was casually shot in the stomach by a German soldier and left for dead, but he managed to survive. The bodies of four other men in this crew were not recovered after the war and much investigation took place into the possibility that these men had also been shot on the ground, but there was not enough evidence for this to be proved."
(Martin Middlebrook, The Schweinfurt-Regensburg Mission. American Raids On 17 August 1943, London 1983, S. 302.)
Dieser Fall mit einem gesicherten Mordversuch an einem US-Flieger und vier weiteren ungeklärten Fliegerschicksalen
zeigt auch, warum viele alliierte Soldaten am Boden lieber unentdeckt bleiben wollten.
Der britische Offizier Lionel Jeffries hatte ja in dem von Tac kritisierten Artikel betont, daß er nach seiner Landung und Gefangennahme durch deutsche Zivilisten eine viel schlechtere Behandlung erwartet hatte:
QuoteAus einem zeitlichen Abstand von 60 Jahren heraus betrachtet der Offizier Lionel Jeffries die Geschehnisse nach dem Absturz pragmatisch: „Sie haben mich besser behandelt, als man es von einem Feind erwarten kann, den man bombardiert hatte. Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn die Deutschen meinen Heimatort Rockhampton bombardierten.“
http://www.nordbayern.de/region/herzoge…icksal-1.177032
Grüße,
Bodo