• Hallo,

    ich beschäftige mich im Moment mit der Stadt LUZK und Umgebung in Wolhynien (heute zur Ukraine gehörig) vor und während des 2. Weltkriegs.

    Teile der Schwiegerfamilie stammen aus der Gegend.

    Es war eine bunte Bevölkerungsmischung die in der Stadt zu Beginn des Krieges lebte. Entsprechend umfangreich war die ethnische Bereinigung. Die angewandten Methoden waren Umsiedlungen, Deportationen und Exekutionen.

    Yad Vashem (u.a.) berichtet über Massenexekutionen in Sommer 1941, also kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht. Hier werden der Einsatzgruppe C, Sonderkommando 4a etwa 1600 Morde zugeschrieben.

    Als dann im August 1942 das Ghetto und verschiedene Arbeitslager für Juden in und um Luzk aufgelöst wurden, werden je nach Quelle, 20 - 25.000 Menschen in Gorka / Hirka Polanka (8km sw. v. L.) durch Erschießen ermordet.

    Die Täterschaft wird der Gendarmerie und ukrainischen Hilfstruppen zugeschrieben, die Leitung der nur zwei Tage andauernden Aktion, wird dem Gebietskommissar und SS-Sturmbannführer Heinrich Lindner zugeschrieben.

    Mich befremdet die Zusammensetzung der Täter auf deutscher Seite aus Gendarmerie und Gebietskommissar. Ist die Gendarmerie mit der Ordnungspolizei gleichzusetzen? Haben tatsächlich die Gebietskommissare des Reichskommissariats Ukraine eigenständig solche größeren Aktionen durchgeführt?

    Beste Grüße

    Paul


    G-W-G'

  • Guten Tag ans Forum und an Paul,

    Ordnungspolizei war im III.Reich der Sammelbegriff für die verschiedenen uniformierten Polizei-Dienstzweige.

    Neben der Schutzpolizei war die Gendarmerie eine der beiden Hauptsäulen der Ordnungspolizei.

    Die Gendarmerie als Bestandteil der Ordnungspolizei darf nicht mit der Feldgendarmerie, also der Ordnungstruppe der Wehrmacht, verwechselt werden.

    Die Gebietskommissare im Osten waren die Chefs der Zivilverwaltung in ihren jeweiligen Gebieten. Die Gendarmerie war auch im Osten

    der Zivilverwaltung auf den verschiedenen Ebenen hierarchisch angegliedert. Auf Gebietsebene war das der Gendarmerie-Gebietsführer, der auch SS- und Polizei-Gebietsführer war.

    Ab Ende 1943 waren diese Führer dann unter dem Namen SS- und Polizei-Gebietskommandanten bekannt.

    Im Rahmen der hierarchischen Befehlskette konnte der Gebietskommissar der Zivilverwaltung "seiner" Gendarmerie, wozu auch ein motorisierter Gendarmerie-Zug (als geschlossene Einsatzeinheit)

    zählte, die Teilnahme an selbständigen oder unselbständigen Vernichtungsaktionen befehlen.

    Mit freundlichen Grüßen aus der Normandie

    Peter

    (PH)

  • Hallo Peter,

    herzlichen Dank für Deine Erklärungen zu diesem Thema. Waren die Gendarmen in den Polizeibataillonen organisiert oder gab es gesonderte Gendarmerie-Einheiten.

    Ich hatte bisher immer die Vorstellung, dass die Einsatzgruppen und deren Sonderkommandos bis zum Jahresende 1941 die Mordaktionen durchführten, jetzt zeigt aber, dass es scheinbar noch eine zweite Welle der der Massenexekutionen in den besetzten Gebieten gab. Waren die Aktionen der Willkür der jeweiligen Gebietskommissare überlassen oder war diese Vorgehen eine konzertierte Aktion. Gibt es da evtl. einen Zusammenhang mit der Aktion Reinhardt in Polen?

    Gruß

    Paul


    G-W-G'

  • Guten Tag ans Forum und an Paul,

    wie ich bereits mit den Gendarmerie-Zügen erwähnt hatte, gab es es auch Gendarmerie-Einheiten, u. a. auch als Gendarmerie-Bataillone.

    Aber eigentlich waren für die zahlreichen Polizeieinheiten (Sammelbezeichnung) aktive Schutzpolizei-Angehörige und Schutzpolizei-Reservisten

    vorgesehen. Da es im Gegensatz zu den Schutzpolizisten ja zahlenmäßig auch nicht so viele Gendarmerie-Angehörige (Aktive und Reservisten) gab, setzte man die

    Gendarmerie bestimmungsgemäß eigentlich für den Einzeldienst (Einzelposten und Gruppenposten) auf dem platten Lande ein.

    Die Juden- und Untermenschenvernichtung im Osten im Rahmen des Rassen- und Vernichtungskrieges war ja bekanntermaßen erklärtes Ziel des Nationalsozialismus und

    war in sofern eine konzenierte Aktion auf Partei-, Staats- und Militärebene von oben nach unten. Aktionen wie "Reinhard" und solche auf regionalen und örtlichen Ebenen

    waren dann jeweils größere oder kleinere Bestandteile des großen nationalsozialistischen Vernichtungswahns.

    Die meisten Vernichtungsaktionen dürften sich auf dem Befehls- oder Dienstweg abgespielt haben, aber persönlicher Judenhass und "vorauseilender Gehorsam" dürften ebenfalls

    Auslöser für Vernichtungsaktionen gewesen sein. Das Thema ist riesig und nicht mit einem kleinen Wortbeitrag in unserem Forum abhandelbar.

    Nach dem Krieg gehörte es zum beliebten Ausrede-Szenario, dass nur Einsatzgruppen und deren Sonderkommandos (Sicherheitsdienst der SS und Sicherheitspolizei, d.h. Kriminalpolizei und Gestapo)

    die Mordaktionen im Osten durchgeführt hatten.

    Zumal die Ordnungspolizei (Schutzpolizei und Gendarmerie) ja den größten Personalanteil an diesen Gruppen und Kommandos gestellt hatten.

    Da Polizeieinheiten bei "ihren" Vernichtungsaktionen ja von einem Angehörigen der Sicherheitspolizei in Uniform begleitet wurden, waren dann nach dem Krieg immer die

    "in den schwarzen Uniformen" die Bösen gewesen.

    Das als Zusatztext für Paul.

    Vielleicht noch eine Kleinigkeit: es gab auch Schutzpolizisten, die innerhalb der Gendarmerie ihren Dienst versahen und genauso Gendarmen bei der Schutzpolizei.

    Das zum Thema, dass Polizeigeschichte "kompliziert" sein kann.

    Mit freundlichen Grüßen aus der Normandie

    Peter

    (PH)

  • Vielen Dank Peter,

    habe mir inzwischen dien Eintrag im Lexikon zu Polizei und Gendarmerie durchgelesen (hätte ich früher drauf kommen sollen) und zusammen mit Deinen Ausführungen ist mir einiges klarer geworden!

    Und in der Tat, die Geschichte der Vernichtungsaktionen in den „Blood land‘s“ ist umfassender als ich mir bisher vorstellen könnte!

    Grüsse aus Berlin in die Normandie

    Paul


    G-W-G'

  • Guten Abend Paul,

    Vernichtungsaktionen....SS, SD, Polizei...

    Du kennst mein Interessengebiet, du darfst mir zutrauen, schon reichlich zum Thema gelesen zu haben.

    Ich dachte vor Jahren mal, ich wäre fertig, fertig mit meinem Wissensdurst...ich kannte alles, ich weiß alles.

    Dem ist nicht so!

    Jedes neue Buch zum Thema,

    alle neuen Dokumente aus den Archiven,

    zeigen mir immer wieder auf, wie man etwas "toppen" kann.

    Erschreckend, ich (man) werde wohl nie "fertig" zu verstehen, was damals abging.

    Kann man sowas verstehen?

    Ich, wie gesagt, nicht...

    Grüße Thomas

  • Yad Vashem (u.a.) berichtet über Massenexekutionen in Sommer 1941, also kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht. Hier werden der Einsatzgruppe C, Sonderkommando 4a etwa 1600 Morde zugeschrieben.

    Als dann im August 1942 das Ghetto und verschiedene Arbeitslager für Juden in und um Luzk aufgelöst wurden, werden je nach Quelle, 20 - 25.000 Menschen in Gorka / Hirka Polanka (8km sw. v. L.) durch Erschießen ermordet.


    Hallo,

    in der Datenbank der Uni Amsterdam ist ein Verfahren verzeichnet, in dem für die Region Luzk und weiteren Orten im rückwärtigen Gebiet der 6.Armee im Jahr 1941 Massentötungen von ca. 60.000 Menschen genannt werden. Als tatausführende Einheit werden dort die von Dir schon genannten Einsatzgruppen des Sonderkommandos 4a angegeben:

    Verfahren Lfd.Nr.694

    Tatkomplex: Massenvernichtungsverbrechen durch Einsatzgruppen, Kriegsverbrechen

    Angeklagte:

    Cal., Kuno 15 Jahre

    Con., Ernst (Oskar) von Strafe abgesehen (§47 MStGB)

    Häf., August Verfahren eingestellt

    Han., Friedrich Wilhelm Kurt 6 Jahre + Verfahren eingestellt

    Jan., Adolf 11 Jahre

    Pfa., Georg Karl von Strafe abgesehen (§47 MStGB)

    Rie., Alexander 4 Jahre

    Schu., Christian Gustav Paul 4½ Jahre

    Tri., Viktor von Strafe abgesehen (§47 MStGB)

    Woi., Victor Michael 6 Jahre + Verfahren eingestellt

    Gerichtsentscheidungen:

    LG Darmstadt 681129

    BGH 730405

    Tatland: Ukraine

    Tatort: Sokal, Hrakow, Luzk, Nowograd Wolynskij, Berditschew, Shitomir, Radomysl, Bjelaja Zerkow, Wassilkow, Iwankow, Kiew (Babi-Yar-Schlucht), Charkow

    Tatzeit: 41

    Opfer: Juden, Zivilisten, Geisteskranke, Kriegsgefangene

    Nationalität: Sowjetische

    Dienststelle: Einsatzgruppen SK4a

    Verfahrensgegenstand: Massen- und Einzeltötungen von insgesamt ca. 60.000 Juden, kommunistischen Funktionären, Geisteskranken und Kriegsgefangenen im rückwärtigen Heeresgebiet der 6.Armee

    Veröffentlicht in Justiz und NS-Verbrechen Band XXXI

    Quelle: https://www.expostfacto.nl/

    Im Anhang noch ein Pressebericht zu den organisatorischen Strukturen der deutschen Verwaltung in den eroberten Ostgebieten. In dem Artikel wird u.a. beschrieben, dass in der Verwaltungseinheit eines "Generalkommissariats" (in der Ukraine gab es sechs davon) ca. 2.300 deutsche Kräfte eingesetzt waren - darunter ca. 620 Gendarmen.

    Quelle: Neues Wiener Tagblatt Nr. 326 vom 25.November 1942, Seite 3

    Gruß, J.H.

  • Hallo,

    in meinen Nachforschungen zu der Stadt Luzk stieß ich einige interessante Familienüberlieferungen, die ich erstaunlich fand. Doch bevor dich die schildere, einige Sätze als Hintergrundinformation.

    Wie bereits oben erwähnt stammt meine Schwiegerfamilie aus der Gegend um Luzk in Wolhynien. Bis zum 1. Weltkrieg gehörte die Stadt zum Zarenreich, danach gab es einige Wirrungen (1915 Besetzung durch KuK Truppen, 1916 Rückeroberung durch die russische Armee, 1918 deutsche Besetzung, 1918 Petljura Ukraine) die mit der Annexion durch polnische Truppen im Mai 1919 beendet wurden. Seitdem war Luzk Hauptstadt der Woiwodschaft Wolhynien in der Republik Polen. Dies bis zum Einmarsch der Roten Armee im Gefolge des deutschen Überfalls auf Polen im September 1939.

    Nach dieser Einführung nun die eigentlich Geschichte. Im Zuge des Zusatzvertrages zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurden die "Volksdeutschen / Wolhynien-Deutschen" um Jahreswende 1939 / 1940 aus der sowjetischen Besatzungszone in den damals sogenannten Warthegau umgesiedelt. Dort dann nach Prüfung zu Reichsbürgern erhoben und durften die Rechte und Pflichten eines Reichsdeutschen in Hitlers Reich genießen.

    Und die Leute waren nicht faul, sondern begannen nach der Eroberung Wolhyniens (bis August 1941) durch die Wehrmacht Briefverkehr mit alten Freunden in der Gegend aufzunehmen. Eine Sprachbarriere gab es nicht, die meisten waren von der Kindheit her dreisprachig aufgewachsen, deutsch und jiddisch, russisch und ukrainisch sowie polnisch. Zunächst musste man feststellen, dass von den polnischen Nachbarn nicht wenige in die Sowjetunion verfrachtet worden waren. Etwas später musste man feststellen, dass auch einige jüdische Bekannte den Tod durch deutsche Uniformierte gefunden hatten. Und ab Ende 1942 wussten eigentlich alle Wolhynien-Deutschen, dass von den jüdischen Nachbarn und Bekannten in Luzk und Umgebung niemand mehr lebte. Leider ist die letzte Zeitzeugin (Jahrgang 1929) vor wenigen Jahren verstorben. Aber die Kinder, heute tlw. bereits über 70 Jahre alt, erinnern sich noch recht genau an die Gespräche in der Familie über dieses Thema. Man muss sie nur drauf ansprechen!

    Beste Grüße

    Paul


    G-W-G'