Ingrid Irmgard Wagner, * 13.02.1941 | † 22.04.1942 (Landes-Heilanstalt Eichberg)

  • Hallo Diana,

    den Eintrag aus dem Sterberegister hatte ich Dir gestern noch rausgesucht.

    Interessant, wie viel in Eichberg gestorben wurde und wie wenig Mühe man sich mit den Todesursachen gab. Bei Kindern "Lungenentzündung bei Idiotie und..." bei Erwachsenen meist "Herzstillstand bei...".

    Am gleichen Tag wie Irmgard starben Helena Puliczewski aus Wanne in Westfalen, 38 Jahre, Richard Karl Friedrich Behrensen aus Hamburg, 77 Jahre und Vera Frieda Halder geborene Kähler aus Hamburg, 51 Jahre.

    Grüße
    Thilo

  • Hallo, Thilo,

    jetzt bin ich aber gerade ziemlich sprachlos, daß Du ebenfalls über den Sterberegisterauszug von Ingrid Irmgard verfügst. Zum einen würde mich natürlich interessieren, in welchem Zusammenhang er in Deine Hände kam, aber das andere "Kuriose" ist, daß "mein" Sterberegisterauszug nicht identisch ist mit Deinem; sieh selbst. Dein Auszug stammt vom 23. April, meiner vom 28. April. Jetzt fragt sich doch, warum es zwei unterschiedliche Dokumente gibt? Was könnte der Grund dafür sein, daß der Standesbeamte ein solches Dokument zweifach ausstellte?

    Wenn ich mir so die Handschriften ansehe und miteinander vergleiche, würde ich sagen, daß sie von ein- und derselben Person stammen, auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht den Anschein hat.

    Grüße

  • Hallo Diana und alle anderen!

    Wichtig ist zunächst, dass man überhaupt nachforscht und sucht, unabhängig davon, ob man die gewünschten Ergebnisse erreicht oder leider auch nicht.
    Wir sind heute erschüttert über den damaligen Umgang mit geistig behinderten Kindern und Erwachsenen, der durch das "Dritte Reich" zwar legitimiert, aber vor allem durch Ideen und Sichtweisen der psychiatrischen Mediziner beeinflusst war. Erklärend - und keinesfalls entschuldigend - ist anzumerken, dass zu dieser Zeit geistige Erkrankungen viel häufiger waren als heute, wo man gewisse Behinderungen schon pränatal "aussortiert". Auch waren Geschlechtskrankheiten, wie z. B. Lues, die zu Behinderungen bei den Nachkommen führen können, verbreiteter und wurden weniger erkannt bzw. therapiert. Auch die Therapiemöglichkeiten von "Geisteskrankheiten" waren begrenzt und oft wenig wirksam. So fielen die Ideen des "lebensunwerten" und dabei kostenverursachenden Lebens auf "fruchtbaren" (furchtbaren) Boden.
    Eine mir bekannte Aussage der leitenden Ärztin einer Kinderfachabteilung an einer Heil- und Pflegeanstalt, die übrigens nach dem Kriege eine Praxis für Psychiatrie und Neurologie im selben Ort betrieb, lautete: "Was hätten wir tun sollen? Wir konnten ja nicht anders..." Diese Frage wird sie sich wohl häufiger gestellt haben, als sie in den letzten Jahren ihres langen Lebens die Kinderabteilungen der Friedhöfe besucht hat.

    Gruß Cristiane

    "Feigheit ist die Mutter der Grausamkeit" Montaigne

    Suche Einsatzorte 3./schwere Artillerie Abt. 848 ab Juni 1943

  • Hallo Diana,

    es gibt Sterberegister und Sterbenebenregister, also eine Zweitschrift, falls die andere verbrennt oder sonstwie vernichtet wird. Mein Auszug stammt aus dem Sterbenebenregister, liegt im Hess. Staatsarchiv Marburg.

    Grüße
    Thilo

    Suche alles zur Lehrtruppe Fallingbostel und zum Einsatz des NSKK in der Ukraine 1941

  • Hallo, Thilo,

    daß es so etwas wie ein Sterbenebenregister gab (gibt?), war mir bislang überhaupt nicht bekannt. Und dann auch noch in digitalisierte Form für jeden einsehbar!

    Hier der Link http://lagis-hessen.de/de/subjects/index/sn/pstr

    Das Sterbe-Zweitbuch vom Standesamt Erbach/Rhg. aus dem Jahr 1942 findet man hier: http://dfg-viewer.de/show/?set[mets]=http%3A%2F%2Fdigitalisate.hadis.hessen.de%2Fhstam%2F919%2F1203.xml

    Der Eintrag zu Ingrid Irmgard befindet sich auf Seite 273.

    Einen Tag zuvor verstarb das am 20.02.1939 in Stuttgart geborene Kind Lore Ruisinger. Als Todesursache wurde Lungenentzündung bei Idiotie und Mikrocephalie angegeben. Und je weiter ich da blättere, um so sprachloser werde ich. Von dieser Landes-Heilanstalt wurden täglich mehrere Menschen als "verstorben" gemeldet. - Ich muß das erstmal sacken lassen. Wenn ich jetzt all diese Sterbeeinträge sehe, die Diagnosen dazu lese, da wird mir schlecht.

    Grüße

    Diana

    Die Frau ist die einzige Beute, die ihrem Jäger auflauert (Ingelore Ebberfeld)

  • Hallo Diana, hallo zusammen!

    Die oft als Todesursache angegebene Lungenentzündung war meist die Folge systematischer Unterernährung und Vernachlässigung bzw. gezielter Sedierung der kleinen Patienten, welche dann extrem geschwächt in ihren Bettchen dahinvegetierten. Auch waren die Kinder verschiedenen "Experimenten" des Ärztepersonals willkürlich und schutzlos ausgeliefert. Diese hilflosen Kinder vor ihrem Tode noch schlimmsten Qualen auszusetzen, zeugt von Zynismus und Menschenverachtung der "behandelnden" Ärzte; unerträglich!

    Gruß Cristiane

    "Feigheit ist die Mutter der Grausamkeit" Montaigne

    Suche Einsatzorte 3./schwere Artillerie Abt. 848 ab Juni 1943

  • Hallo zusammen,

    in den vergangenen Tagen habe ich mich wieder intensiv mit dem Thema beschäftigt und mich durch zahlreiche (online verfügbare) Archiv-Akten gelesen. Mehr als erstaunt war ich, daß wohl die Frage nach einer Lösung des "Problems" seitens der Eltern gar nicht so selten gestellt wurde. Beispielhaft hänge ich Aussagen zweier Eltern an, deren Kinder in Ansbach bzw. Hadamar verstarben (Quelle: siehe Bilder, aus "Grafeneck-Prozeß", Prozeß gegen Dr. Otto Mauthe u.a. wegen Euthanasie). In diesem Findbuch (Wü 29/3 T 1) ist ebenfalls eine Liste der in der Anstalt Eichberg verstorbenen Kinder aus Württemberg hinterlegt.

    Der Vater von Heinrich Frank gibt in seiner Vernehmung eine Arzt-Aussage wieder "..., daß alle derartigen Maßnahmen nur mit dem Einverständnis der Eltern durchgeführt werden dürften". Ist die Aussage des Arztes belastbar? Vorstellen möchte ich mir nicht, daß dem so gewesen ist.

    Grüße

  • Der Vater von Heinrich Frank gibt in seiner Vernehmung eine Arzt-Aussage wieder "..., daß alle derartigen Maßnahmen nur mit dem Einverständnis der Eltern durchgeführt werden dürften". Ist die Aussage des Arztes belastbar? Vorstellen möchte ich mir nicht, daß dem so gewesen ist.

    Hallo Diana,

    ohne Dir Deine o.a. Frage beantworten zu können, möchte ich an dieser Stelle einmal darauf
    hinweisen, dass zu dieser Zeit (und früher) der Umgang/die Therapie von (geistig) Behinderten
    oder psychisch Erkrankten in unseren Augen generell schlimm und menschenunwürdig war.
    Von daher fielen die Ansichten vom "Lebensunwerten Leben" auf durchaus fruchtbaren Boden.
    Unabhängig von dem schrecklichen Aspekt der Euthanasie, bestand die gängige (und wohl auch
    gesellschaftsweit akzeptierte) Behandlung aus Wegsperren, (medikamentös) Ruhigstellen,
    Anwendung umstrittener Behandlungsmethoden (z.B. Elektroschocks) und Warten auf das (biologische)
    Ende. Dies war auch nicht nur auf Deutschland bezogen, sondern weltweite Praxis. (Aus der eigenen
    Familie bin ich z.B. auf entsprechende Anstalten in den USA gestossen.)

    Gruß
    Rudolf (KINZINGER)

  • Hallo zusammen!

    Nachdenklich stimmt mich in diesem Zusammenhang der letzte Absatz in dem von Bert (Jahrgang39) verlinkten Artikel, in dem es u. a. heißt:
    "...Dieser gesellschaftliche Kontext ist aber nicht in Stein gemeißelt."

    Gruß Cristiane

    "Feigheit ist die Mutter der Grausamkeit" Montaigne

    Suche Einsatzorte 3./schwere Artillerie Abt. 848 ab Juni 1943

  • Hallo, Rudolf,

    wenn wir davon ausgehen, daß die damalige Behandlung von geistig und körperlich Behinderten sowie psychisch Erkrankten als "salonfähig", von der Gesellschaft getragen und akzeptiert, als etwas völlig Normales galt und wir diese Einschätzung in Dokumenten wie oben wiederfinden, erweitert sich für mich persönlich der Täterkreis um die Euthanasie-Opfer aber ganz gewaltig. Keinesfalls will ich damit zum Ausdruck bringen, daß jede Familie ihr Einverständnis zur Tötung gegeben hat. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, daß es diese gegeben hat. Man müßte dazu mehr recherchieren, in welchem Umfang es tatsächlich Einverständniserklärungen seitens der Eltern gegeben hat.

    Grüße

    Diana

    Die Frau ist die einzige Beute, die ihrem Jäger auflauert (Ingelore Ebberfeld)

  • Hallo, Rudolf,

    ist mir das mal wieder peinlich :/ , ich Schussel!

    Werde es umgehend korrigieren, das soll so nicht stehenbleiben.

    Grüße

    Diana

    Die Frau ist die einzige Beute, die ihrem Jäger auflauert (Ingelore Ebberfeld)

  • Hallo Diana,

    entschuldige, dass ich diesen Beitrag wieder aus der Versenkung hole.Ich lese das hier eröffnetes Thema erst jetzt.

    wenn wir davon ausgehen, daß die damalige Behandlung von geistig und körperlich Behinderten sowie psychisch Erkrankten als "salonfähig", von der Gesellschaft getragen und akzeptiert, als etwas völlig Normales galt und wir diese Einschätzung in Dokumenten wie oben wiederfinden, erweitert sich für mich persönlich der Täterkreis um die Euthanasie-Opfer aber ganz gewaltig.

    Gerade zu diesem Aspekt ist das Buch Die Belasteten von Götz Aly zu empfehlen. Der Autor hat die Wahl seines Titels exakt damit begründet, dass nicht nur die Ärzte Bestandteil dieses Komplexes waren, sondern auch bei Angehörigen, der Gesellschaft und anderen Gruppen, eine gewisse "Verwicklung" in die Euthanasie gegeben ist. Wenn nicht in tätlicher Hinsicht so doch aber vor allem durch nicht wissen wollen bzw. all zu leichtes nachgeben. Zumindest bis zu deren Beendigung.
    Ein wirklich sehr spannendes, noch nicht all zu altes Buch, das eine neue Perspektive auf den Komplex Euthanasie eröffnet wie ich finde.


    Viele Grüße

    Felix

    PS: Würde mich gerne weiter zum Thema austauschen. NS Medizin (Wehrmedizin) ist eines meiner vorrangigen Beschäftigungsfelder neben dem Militär. Wollte auch schon einmal die Gründung einer ARGE hier im Forum dazu anregen, da ich aber zumindest anmeldetechnisch ein "Frischling" bin habe ich das bisher nicht gewagt. Gerne auch hierzu Austausch (vielleicht via PN ode Email).

    Edited once, last by Odenwälder Bubb (May 31, 2016 at 11:37 AM).

  • Hallo, Felix,

    vielen Dank für diesen Literaturtipp; ich werde mir auf jeden Fall dieses Buch zulegen.

    Als ich damals das komplette Sterbenebenregister aus Erbach durchsah, kam mir die Frage in den Sinn, ob den noch heute lebenden Angehörigen das Schicksal ihres in Erbach "verstorbenen" Verwandten überhaupt bekannt ist. Viele der Kinder war ja noch so klein bzw. jung, daß eventuell später geborene Geschwister gar keine Kenntnis von der Existenz des älteren hatten oder haben. Ich habe wirklich lange überlegt, ob es moralisch vertretbar ist, an einen Fremden mit solchen Fragen heranzutreten, habe wegen meiner Bedenken Rat angefragt - und diesen auch positiv bejahend erhalten. Trotzdem mußte ich immer noch meinen ganzen Mut zusammennehmen, um die Email letztendlich abzusenden. Allerdings bin ich nicht direkt an eine Familie herangetreten, sondern habe beim Ortchronisten angefragt. Ihm war auch das Kind und der Sterbefall bekannt und er sagte zu, bei nächster Gelegenheit die noch lebende Schwester auf ihren kleinen Bruder anzusprechen. Sie erzählte ihm später, daß ihre Mutter bei der "Ablieferung" des Kindes H. von einer anderen Mutter gesagt bekam "Sie sehen ihr Kind nicht mehr". H. war nur 14 Tage im Heim, dann trat der "plötzliche" Tod ein.

    Du siehst, immer wieder stößt man auf die Tatsache (die ich an dieser Stelle keinesfalls moralisch werten will und darf), daß es Eltern durchaus bekannt war, um welche Art "Pflege" es sich handelte. Schon deshalb interessiert mich außerordentlich, was Herr Aly in seinem Buch dazu schreibt.

    Quote

    NS Medizin (Wehrmedizin) ist eines meiner vorrangigen Beschäftigungsfelder


    Du kennst bereits --> dieses Thema? Noch enthält der Thread nicht ganz so viel Substanz, aber dort wäre doch evtl. die geeignete Stelle, um das Thema weiterzusprechen und vor allem auszubauen.

    Grüße

    Diana

    Die Frau ist die einzige Beute, die ihrem Jäger auflauert (Ingelore Ebberfeld)

  • Hallo Diana und Thomas,

    danke für eure beiden Antworten.

    Diana: Ja dieser Thread steht schon einige Zeit auf meiner Abo-Liste. Mit einer Thematik aus diesem Thread beschäftige ich mich auch außerhalb dieses Forums äußerst intensiv. Ich melde mich die Tage per PN, dann gebe ich mal einige nähere Erläuterungen.

    Bis dahin. Viele Grüße

    Felix

    Edited 3 times, last by Odenwälder Bubb (June 2, 2016 at 10:52 AM).

  • Hi allseits,

    ergänzend zu Thomas' Hinweis auf Götz Aly z.B. im bpb:
    2 Auflagen sind erschienen; beide sind gleich;
    also tut's auch die (häufig günstigere) 1. Auflage.


    Etwas zu den Familien und ihren behinderten Angehörigen:
    habe in Erinnerung, daß es viele Familien gab, die sich sehr wohl zu wehren versuchten,
    der "Verlegung" widersprachen, verzweifelt nachforschten, was wo mit ihren Angehörigen
    geschehen sollte bzw. geschah.

    Ist länger her, daß ich mich damit beschäftigt habe, werde diese Hinweise aber suchen
    und hier auch einstellen.

    Grüße, Kordula

    Slava Ukraini! In Memoriam A.N.!

  • Hallo,

    sich zu widersetzen war nicht einfach, denn zum einen wurden die waren Absichten behördlich gut verschleiert (siehe meinen Beitrag aus dem September), zum anderen auch propagandistisch aufbereitet. Und das aus unterschiedlichen Blickwinkeln, für die breite Masse "Jeder Erbkranke kostet.....RM" als auch für die Angehörigen, z.B. mit dem Film "Ich klage an".

    Außerdem muß man sehen, daß es für schwerbehinderte Menschen praktisch keine Alternativen zu den Heil- und Pflegeanstalten gab wenn die Angehörigen die Pflege nicht (mehr) selbst übernehmen konnten.

    Grüße
    Thilo

    Suche alles zur Lehrtruppe Fallingbostel und zum Einsatz des NSKK in der Ukraine 1941

  • Hallo Zusammen,

    auch wenn es nicht zum Thema "Euthanasie" passt, ist er
    dennoch ein Opfer des Nazi-Regimes:

    Peter Korschak
    geb. 11. Oktober 1944 im Zwangsarbeiterlager "Waldlager Künsebeck" (bei Halle/Westf.)
    gestorben: ebendort 11.Februar 1945
    (angebliche) Todesursache: Pneumonie; wohl eher verhungert.

    Die Mutter von Peter wurde zur Zwangsarbeit nach Künsebeck gebracht.
    Zu diesem Zeitpunkt war sie Studentin und schwanger.
    Im "Waldlager Künsebeck" "lebten" ca. 1000 Zwangsarbeiter, vorwiegend aus der Ukraine.
    Das Lager gehörte zur Firma Dürkopp aus Bielefeld und stellte in Künsebeck Fla-Waffen her.
    Nach der Befreiung durch US Truppen, kehrte Peters Mutter zurück in die Ukraine, bekam aber keine Kinder mehr.

    Auf Peter Korschak bin ich gestossen, seit dem ich an der gleichnamigen Gesamtschule seit Gestern als Integrationsfachkraft arbeite.

    Quelle: Peter Korschak Gesamtschule Halle/Westf

    Gruß
    Gerd (der aus Bielefeld)