Hallo zusammen,
heute möchte ich ein weiteres Mal wichtige Erkenntnisse aus Forschungsarbeiten zum Thema "Tieffliegerangriffe durch US Air Force" zusammenfassen.
In einer früheren Phase dieses Threads hatte ein Mitglied bereits das Buch des ehemaligen Lehrers und Historikers Helmut Schnatz "Tiefflieger über Dresden?" erwähnt. Soweit ich weiß, ist es das einzige Werk, dass sich schon relativ früh (2000) und mit wissenschaftlichem Ansatz mit diesem Aspekt des Luftkrieges beschäftigt hat.
Hier zuerst ein Auszug, in dem Schnatz einen Überblick über die US-Luftkriegsstrategie von 1944 bis zum Kriegsende gibt:
QuoteDisplay More"Die amerikanische Luftwaffe hat sowohl mit Flugzeugen, die den strategischen Luftstreitkräften, also der 8. und der 15. Air Force, zugeteilt waren, als auch mit denjenigen ihrer taktischen Luftstreitkräfte, also der 1. Provisorischen Taktischen, der 9. und der 12. Air Force über Deutschland zwischen dem April 1944 und dem Kriegsende fast täglich im Tiefflug eine große Zahl an Zielen angegriffen.
[...]
Als die US-Jäger im Frühjahr 1944 die Luftüberlegenheit erkämpft hatten, wurde es in der US-Air Force üblich, während des Rückfluges einen Teil der Begleitjäger für selbstständige Tiefangriffe über Deutschland zu detachieren. Diese operierten dann in kleinen Gruppen von zwei bis zu acht Maschinen in Höhen zwischen 1000 und 1500 Metern und hielten Ausschau nach Zielen. In einigen Fällen wurden die Jägerkräfte von der 8. Air Force ausschließlich für weiträumige Tiefflüge und -angriffe eingesetzt, so zum Beispiel am 29. und 31. Mai 1944.
Im Sommer 1944 war die Tieffliegergefahr so allgegenwärtig, daß praktisch jeder große Rückflug von US-Bomberverbänden aus Mitteldeutschland von Tiefangriffen längs der Rückflugroute begleitet war. Ostwärts einer Linie, die etwa 50 Kilometer parallel zum Rhein verlief, war deshalb Vorsicht auf Straßen und Bahnlinien angebracht, solange im Drahtfunk oder in der stündlichen Luftlagemeldung des Reichsrundfunks Hinweise auf "feindliche Kampfverbände" durchgesagt wurden."
(Helmut Schnatz, Tiefflieger über Dresden? Legenden und Wirklichkeit, Köln u.a. 2000, S. 70-72.)
Im Wesentlichen bestätigt Schnatz also die Darstellungen der von mir bereits zitierten angloamerikanischen Autoren.
Was er bezweifelt, ist die bewusste Terrorisierung der deutschen Zivilbevölkerung. Nicht wegen der deutschen Presse- und Augenzeugenberichte, sondern weil er nichts davon in den von ihm gesichteten alliierten Einsatzakten gefunden hat.
Schnatz beschreibt seine Erkenntnisse in einer fast schon metaphorischen Sprache ("Sie schossen auf alles, was sie überraschen konnten):
[Meine Frage dazu wäre: wer ist von einem Angriff aus heiterem Himmel eigentlich nicht überrascht?!]
"An dieser Stelle sei bereits auf ein Stereotyp hingewiesen, daß bei den Erzählungen von Tieffliegern immer wieder auftauchte:
"Sie schossen auf alles, was sich bewegte..."
Tatsächlich war die Regel, daß wenn Tiefflieger in Sichtweite auftauchten, jede Bewegung sofort erstarrte bzw. Insassen sofort Züge und Fahrzeuge verließen. Richtig müßte es daher heißen: "Sie schossen auf alles, was sie überraschen konnten."
Der generelle Auftrag der Jäger- und Jagdbomberpiloten der 9. Air Force war die Lahmlegung des gesamten Verkehrs im rückwärtigen deutschen Frontgebiet - also das, was heute als Interdiction bezeichnet wird -, nicht dagegen die Terrorisierung der Bevölkerung."
(Helmut Schnatz, Tiefflieger über Dresden? Legenden und Wirklichkeit, Köln u.a. 2000, S. 70-72.)
Der Jurist und ehemalige Vorsitzende Richter am Berliner Landgericht Theodor Seidel hat diese US-freundlichen Annahmen von Helmut Schnatz in einer eigenen, regionalen Untersuchtung für Westsachsen widerlegt.
Zur Person Seidels:
"Theodor Seidel (* 29. Juli 1931 in Bischofswerda) ist ein deutscher Jurist, Richter und ehemaliger Fluchthelfer. Er war Vorsitzender Richter der Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin und wurde als Vorsitzender Richter im ersten Mauerschützenprozess und im Prozess gegen den ehemaligen Stasi-Chef Erich Mielke bundesweit bekannt."
https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Seidel
Hier wurde die ergänzte Neuauflage von Seidels Buch von der Landeszentrale für politische Bildung Brandenburg vorgestellt:
QuoteDisplay MoreKriegsverbrechen in Sachsen
Dr. Theodor Seidel, Autor und ehem. Richter stellt die 3. erw. Ausgabe seines Buchs vor
Der vorliegende Band hat Kriegsverbrechen der Roten Armee und mit ihr gemeinsam kämpfender polnischer Einheiten bei der Eroberung deutschen Territoriums zum Gegenstand. Es werden Verbrechen von Angehörigen sowjetischer und polnischer Streitkräfte nicht nur an Soldaten der Wehrmacht, sondern auch an Zivilisten belegt. Dabei dokumentiert Theodor Seidel die letzten Kriegs- und die ersten Friedenswochen im Kriegsgebiet Sachsen.
Er nimmt eine systematische Untersuchung des Gebiets Mittel- und Ostsachsens vor und untersucht die Sterbe- und Begräbnisbücher der einzelnen Ortschaften. Dabei stieß er auch auf die nun ergänzten Tieffliegerangriffe auf Zivilpersonen in Westsachsen.
Theodor Seidel hat die Beweggründe für seine Zusatzforschungen zum Thema "Tieffliegerangriffe auf Zivilpersonen"
so erläutert:
"Tieffliegerangriffe
Als in Dresden Geborener und in der Nähe der Stadt Aufgewachsener habe ich mit Interesse die Untersuchungen verfolgt, welche die Streitfrage klären sollen, ob am 13. bzw. 14. Februar 1945 in Dresden Angriffe amerikanischer Jagdflugzeuge auf die Elbwiesen geflogen worden sind. Dabei ist mir allmählich bewußt geworden, daß die Fälle von Tieffliegerangriffen auf Zivilpersonen, auf die ich bei meine Recherchen gestoßen bin, eigentlich zu meiner Thematik gehören.
Nachdem ich bei Schnatz in dessen Buch "Tiefflieger über Dresden? Legenden und Wirklichkeit" einige Erwägungen gelesen habe - ich gehe später darauf ein - die sich nach den von mir festgestellten Tatsachen als nicht tragfähig erweisen, habe ich mich entschlossen, meine Erkenntnisse über Angriffe von Tieffliegern auf Zivilpersonen zu veröffentlichen. Mit einer Ausnahme (Zeugenaussage Plessa) haben alle Angriffe in einem Gebiet mit einer Ausdehnung von etwa 22 x 25 Kilometern stattgefunden."
(Theodor Seidel, Kriegsverbrechen in Sachsen. Die vergessenen Toten von April /Mai 1945, Leipzig (4. Auflage) 2016, S. 234.)
Aus den örtlichen Begräbnisbüchern folgen dann die Orte Reinersdorf, Riesa, Bloßwitz, Prausitz, Naundorf, Lommatsch und Plessa mit Angaben von zivilen Opfern durch Tieffliegerangriffe mit Bordwaffenbeschuß. Später folgen weitere 30 Orte mit amtlich berichteten Tieffliegerangriffen auf Zivilpersonen durch die zitierten Begräbnisbücher.
Seidel zieht folgende Schlüsse aus seinen Nachforschungen, gerade auch im Hinblick auf Schnatz' ältere Angaben:
QuoteDisplay More"Die Begräbnisbücher geben keine Auskunft über die Nationalität der Tiefflieger. Es ist jedoch im hohen Maße wahrscheinlich, daß es sich um solche der amerikanischen Luftstreitkräfte gehandelt hat.
[...]
Bei Schnatz heißt es: "Es sei auf das Stereotyp verwiesen, 'sie schossen auf alles, was sich bewegte'. Der Auftrag der Jäger war nicht die Terrorisierung der Bevölkerung... Es mögen Einzelfälle vorgekommen sein, es war nicht die Regel."
Zur Erhärtung dieser Feststellung verweist Schnatz auf den Umstand, daß in den deutschen Luftlagemeldungen von Dezember 1944 bis April 1945 nur zwei Beschüsse von Feldarbeitern aufgeführt seien, und zwar am 1. März 1945.
Die Unrichtigkeit der von Schnatz gezogenen, von vornherein wenig überzeugenden Schlußfolgerungen belegen schon die zitierten Eintragungen in den Begräbnisbüchern. Man mag darüber streiten, ob die von mir ermittelten Tatsachen schon die Feststellung "sie schossen auf alles, was sich bewegte", zulassen, zumindest erlauben sie nicht die Feststellung des Gegenteils."
(Theodor Seidel, Kriegsverbrechen in Sachsen. Die vergessenen Toten von April /Mai 1945, Leipzig (4. Auflage) 2016, S. 235-236.
Zur Dimension der von Theodor Seidel dokumentierten Fälle findet man in der folgenden Rezension eine gute Zusammenfassung:
"[...] In der 2013 nun 3. erweiterten Ausgabe des Buchs ist das letzte Kapitel zum immer noch
stark umstrittenen Thema der alliierten Tieffliegerangriffe auf Zivilpersonen angefügt.
Seidel weist auch hier an Hand von Zeugenaussagen und den Kirchenbüchern Sachsens
für den Zeitraum vom 1. bis 25. April 1945 nach, dass es mindestens vierundzwanzig gezielte Angriffe
auf Einzelpersonen sowie neun auf Busse und Personenzüge gegeben hat. Viele konnten unverletzt entkommen,
unter den insgesamt knapp 100 recherchierten Toten in Westsachsen waren neben Frauen und Kindern auch 5 französische Kriegsgefangene."
http://gedenkbibliothek.de/dow…3._erw._Ausgabe_2013_.pdf
Warum die Erkenntnisse von Schnatz und Seidel über gezielte Tieffliegerangriffe auf Zivilisten so unterschiedlich ausgefallen sind,
darauf könnte wiederum der von mir neulich zitierte Dresden-Experte Götz Bergander ("Dresden im Luftkrieg") schon Jahre vorher eine Antwort gegeben haben:
Quote"Noch etwas fällt auf. Im Wehrmachtbericht wurde wiederholt Mitteilung gemacht von Tiefangriffen auf die Zivilbevölkerung, sogar mit Angabe der betroffenen Gebiete.
Voraussetzung dafür war offensichtlich, daß Tiefflieger in großer Zahl erhebliche Verluste verursacht hatten. Die sich beim Heimflug routinemäßig entwickelnde Jagd auf "Gelegenheitsziele" fand kaum Erwähnung, Namen bombardierter Städte wurden ebenfalls nur genannt, wenn die Schwere des Personen- und Sachschadens dies unvermeidlich erscheinen ließ."
(Götz Bergander, Dresden im Luftkrieg. Vorgeschichte, Zerstörung, Folgen, Würzburg 1998, S. 205.)
Nun hatte Götz Bergander zwar das Vorwort im zwei Jahre danach erschienenen Buch von Helmut Schnatz "Tiefflieger über Dresden?" verfasst. Anscheinend hat er ihn aber nicht auf die genannte Voraussetzung "erhebliche Verluste" aufmerksam gemacht. Warum sollten einzelne Opfer von Tieffliegerangriffen in die deutschen Luftlagemeldungen aufgenommen werden, wenn sie ebensowenig im Wehrmachtbericht auftauchen?
Dasselbe kann man doch für die alliierten Luftkriegsakten voraussetzen. Warum sollte ein US-Jagdflieger über einzelne von ihm gejagte Zivilpersonen berichten, wo doch in erster Linie die Anzahl zerstörter feindlicher Flugzeuge, Lokomotiven und Militärtransporte für Orden und Beförderungen ausschlaggebend waren?
Beide amtlichen deutsch/amerikanischen Quellenbestände hatte Schnatz für seine historischen Abhandlungen (später auch für das Gutachten zum Fall Dresden) herangezogen. Er hat aber (folgt man Theodor Seidels Analyse sowie Berganders Ausführungen) nicht berücksichtigt, was aus den genannten Gründen meistens nicht in die herangezogenen Berichte aufgenommen wurde. Nämlich die Tieffliegerangriffe auf einzelne Zivilpersonen. Soviel vielleicht zu dieser Forschungskontroverse.
Grüße
Bodo