Hallo allerseits,
in der vorletzten Woche gedachten die Ministerpräsidenten aus Polen und Russland, Tusk und Putin, gemeinsam der von den Sowjets ermordeten Polen und Russen in Katyn.
Mir fiel in der aktuellen Berichterstattung der deutschen Medien auf, dass viele Journalisten gar nicht wissen, in welchem politischen Umfeld dieses bekannte sowjetische Kriegsverbrechen verübt wurde:
im Kontext von Stalins Angriffskrieg gegen Polen 1939 (das er als „faschistischen Staat“ bezeichnete) und der anschließenden Sowjetisierung des Landes, die bis 1989 andauerte.
„Katyn“ stellt also als Symbol nur einen wichtigen Ausschnitt der gesamten Ereignisse dar. Deshalb habe ich auch dieses neue Thema eröffnet.
Nachdem am 1. September letzten Jahres zu Recht an die deutsche Verantwortung für den Kriegsbeginn vor 70 Jahren erinnert wurde, hatte der frühere polnische Botschafter in Berlin, Janusz Reiter, im Deutschlandradio dazu aufgerufen, endlich auch die verdrängte Geschichte des sowjetischen Angriffskrieges gegen Polen aufzuarbeiten:
Quote„Der 17. September 1939 ist ein Datum, mit dem sich Europa auch noch nach 70 Jahren schwer tut. Dass ein kritischer Umgang mit der Tragödie während des Zweiten Weltkrieges als politisch heikel galt, lässt sich einigermaßen verstehen. Schließlich wurde Stalin, der sich durch den Einmarsch seiner Truppen in Polen zunächst zum Komplizen Hitlers gemacht hatte, zu einem unentbehrlichen Verbündeten der westlichen Mächte im Krieg gegen Nazi-Deutschland.“
Dazu der Link:
http://www.dradio.de/dkultur/sendun…lleton/1035028/
Das polnische Parlament hat noch im letzten Herbst den sowjetischen Überfall vor 70 Jahren scharf verurteilt, was in Rußland auf harsche Kritik gestoßen ist. Dort zimmert man ja gerade wieder an einem von fast allen Verbrechen gesäuberten Stalin-Bild. Dazu der Wortlaut der Welt-Meldung:
Quote„Das polnische Parlament hat den sowjetischen Überfall auf Polen vor 70 Jahren sowie den Mord an mehr als 20 000 polnischen Offizieren in Katyn nun auch in einer offiziellen Note scharf verurteilt. Die Streitkräfte der UdSSR hätten Polen am 17. September 1939 ohne Kriegserklärung überfallen, hieß es in einer per Akklamation verabschiedeten Parlamentserklärung.“
Die russische Reaktion auf die polnische Erklärung:
„Die Note sei "eine ernste Belastung für die Entwicklung der bilateralen Beziehungen", sagte der Vizevorsitzende des auswärtigen Ausschusses der russischen Duma, Leonid Sluzki. Mit der Erklärung stelle sich Polen in eine Reihe von Ländern, die die Geschichte des Zweiten Weltkriegs verfälschen würden. Der Kreml-nahe Politologe Sergej Markow nannte die Erklärung "antirussisch".“
Handelt es sich aber wirklich um den polnischen Versuch, die Geschichte zu verfälschen, wie die russische Regierung meint? Oder sah die historische Wirklichkeit womöglich ganz anders aus, als die heutige nationalistische Geschichtsschreibung Rußlands glauben machen will? Inzwischen hat Katyn erneut zahlreiche polnische Opfer gefordert. Der tragische Flugzeugabsturz der polnischen Staats- und Militärführung um Präsident Kaczynski vor einer Woche hat jedoch dazu geführt, dass sich die Bevölkerungen beider Länder einander angenähert haben:
http://www.welt.de/politik/articl…z-getoetet.html
Für das Forum der Wehrmacht könnte interessant sein, daß der sowjetische Terror in Ostpolen sofort nach Einmarsch der Roten Armee einsetzte, während sich der systematische Nazi-Terror im westlichen Teil erst nach Ende der Wehrmachtsverwaltung am 25. Oktober 1939 richtig entfalten konnte. Die Bemühungen des Nazi-Regimes, die widerständige Wehrmacht im besetzten Polen möglichst schnell politisch auszuschalten, hatte ich bei einem anderen Thema über deutsche Kriegsverbrechen in Polen bereits angesprochen.
Auch die polnische Exilregierung unter General Sikorski in London wußte schon im Sommer 1941, daß „die russische Besetzung Ostpolens im ganzen noch furchtbarer war als die deutsche.“
(Bestätigung des Grafen Zamoyski, dem Adjutanten General Sikorskis, gegenüber Winston Churchills Privatsekretär John Colville am 13. August 1941, zitiert nach John Colville, Downing Street Tagebücher 1939-1945, Berlin 1988, S. 303.)
Warum sich die Deutschen heute so wenig für den im sowjetisch beherrschten Ostpolen wütenden Terror interessieren, erklärt der Eingangs erwähnte Janusz Reiter folgendermaßen:
Quote„Die Angst vor dem Vorwurf, dass Deutschland seine eigene Schuld zu relativieren versuche, verhinderte die Auseinandersetzung mit diesem so vielschichtigen Thema. Es warf die Frage nach dem Verhältnis zwischen der braunen und der roten Diktatur auf - eine heikle Frage, wer wollte das leugnen.“
Vielleicht bekommt der Titel des deutsch-russischen Gemeinschaftswerks „Verführungen der Gewalt“ aus der Forschungsreihe „West-östliche Spiegelungen“ von 2005 hier eine ganz neue Bedeutung. Ich habe zu Stalins Angriffsplänen und zur ersten Phase der sowjetischen Verbrechen in Polen (1939-1941) einige aufschlußreiche Fakten gefunden, die ich unter diesem Thema gerne zusammenfassen möchte.
Dies könnte vielleicht ein kleiner Beitrag zu der von Janusz Reiter eingeforderten Aufarbeitung des Verhältnisses zwischen den deutschen und sowjetischen Angriffskriegen von 1939 sein.
Dazu gehört (knapp eine Woche nach Hitlers Angriffsbefehl) z.B. Stalins Weisung an die obersten Kommunisten-Führer, mit Polen einen „faschistischen Staat“ zu „vernichten“, um „im Ergebnis der Zerschlagung Polens das sozialistische System auf neue Territorien und die Bevölkerung ausdehnen“ zu können.
(Stalin am 7. 9. 1939 auf einer Sitzung im Kreml, zitiert nach Georgi Dimitroff, Tagebücher 1933-1943, Berlin 2000, S. 274.)
Beste Grüße, Bodo